"Wir brauchen mehr Solidarität"
Ein Gefühl der Verunsicherung hat muslimische Gemeinden in Deutschland erfasst. Eine Mischung aus Besorgnis, Sorge und Empörung macht sich breit. Seit Jahren erhalten muslimische Gemeinden hierzulande Drohbriefe, einige wenige Schreiben richteten sich auch an christliche Kirchengemeinden. Zuletzt ging Anfang August ein anonymes Schreiben bei einer Moscheegemeinde im Landkreis Osnabrück ein.
Die Polizei Osnabrück vermutet nach Aussage ihres Sprechers Matthias Bekermann, dass es dem Täter oder der Täterin primär um "die Verleumdung von Privatpersonen aus dem Raum Osnabrück" gehe. Die Polizei nehme an, dass die Auswahl der Adressaten "nicht von der Religionszugehörigkeit" abhängig sei, erläuterte Bekermann auf Anfrage der Deutschen Welle (DW).
Das mag für mehrere Fälle in Osnabrück gelten. Doch auch in anderen Teilen Niedersachsens, in Hessen, Bayern und Berlin erhielten in den vergangenen Jahren Moscheegemeinden Drohbriefe.
Die Gesamtzahl der anonymen Briefe dürfte höher sein als bisher bekannt. Nach Informationen der DW informieren Gemeinden zwar die Polizei, verzichten aber zum Teil auf die mediale Aufmerksamkeit. Zudem bekommen auch einzelne Repräsentanten muslimischer Verbände Drohschreiben, in denen zum Teil auch Familienangehörige, darunter minderjährige Kinder, genannt werden.
Mehr Drohbriefe als bisher bekannt
"Die Bedrohung muslimischer Gemeinden ist nicht neu", sagt Burhan Kesici, Vorsitzender des Islamrats für die Bundesrepublik Deutschland, im Gespräch mit der DW. Auch früher habe es gelegentlich Drohschreiben gegeben. Damals seien es aber erkennbar Schreiben von Einzelpersonen gewesen, zum Teil handschriftlich verfasst.
Nun erhielten Gemeinden solche Drohbriefe deutlich öfter. Nicht selten nehmen die Drohbriefe Bezug auf die rechtsextreme Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU). "Das ist verunsichernd", sagt Kesici, "und auch demotivierend, weil man dagegen nichts tun kann."
Von den seit 2018 eingegangenen Briefen weisen den Polizeiangaben zufolge 18 einen inhaltlichen Bezug zum NSU auf. Mitglieder der Terrorgruppe hatten zwischen 2000 und 2007 neun migrantische Kleinunternehmer sowie eine Polizistin ermordet. Die Mordserie blieb lange ungeklärt. Erst 2011 flogen die Täter auf. Bis heute gibt es Spekulationen über das Netzwerk hinter den Haupttätern.
Gerade der Bezug auf den Terror des NSU verunsichere viele Muslime in Deutschland, sagte der Generalsekretär des Zentralrats der Muslime, Abdassamad El Yazidi, der DW. "Dass sich diese Schreiben auf den NSU beziehen, zeigt, dass die Täter ihre gleichgesinnten Ideologen als Vorbilder sehen, dass sie die menschenverachtenden terroristischen Taten des NSU wiederbeleben wollen und diese glorifizieren." Dem müssten alle in der Gesellschaft gemeinsam entgegentreten.
Verunsicherung und Enttäuschung
Die Verunsicherung steht in einem größeren Zusammenhang. Die Deutsche Islamkonferenz, Ende 2006 erstmals gestartet und nun in ihrer fünften Phase, findet meist keine große Aufmerksamkeit mehr. Ende Juni 2023 legte ein unabhängiger Expertenkreis nach rund dreijähriger Arbeit einen umfassenden Bericht zur Muslimfeindlichkeit in Deutschland vor, der von einem verbreiteten Phänomen spricht.
Zu den rund 20 Ratschlägen der Experten an die Bundesregierung gehört die Empfehlung, einen dauerhaften Sachverständigenrat und einen Bundesbeauftragten für die Bekämpfung von Muslimfeindlichkeit einzusetzen. Beides ist bislang allerdings nicht passiert.
"Nicht eine einzige der 20 Empfehlungen, die dieser Expertenrat herausgegeben hat, wurde bislang aufgegriffen", klagt Yazidi. "Wir Muslime werden ständig diskriminiert, werden angegriffen von der Gesellschaft, aber wir haben keinen Beauftragten für muslimisches Leben, so wie es bei anderen Religionsgemeinschaften richtigerweise längst Standard ist. Wir brauchen in Deutschland einen solchen Beauftragten, der die Finger in die Wunde legt."
Sollen jeden Freitag Polizeikräfte vor Moscheen stehen? Polizeisprecher Bekermann in Osnabrück äußert sich dazu nicht konkret. Polizeiliche Maßnahmen würden fortlaufend an die aktuelle Lage angepasst. Derzeit gebe es aber keine Erkenntnisse, die über eine abstrakte Gefährdungslage hinausgingen. Muslimische Repräsentanten äußern sich unterschiedlich. Mehrere Vertreter aus Niedersachsen drängten in diesen Tagen auf sichtbaren Polizeischutz: "Wenn nicht jetzt, wann dann?"
Moscheen sorgen selbst für Schutz
Islamrats-Vorsitzender Kesici bewertet einen konkreten Schutz von Moscheen "ambivalent". Wer, um sein Gotteshaus zu erreichen, an Polizisten vorbeigehen müsse, könne auch ganz abgeschreckt werden, meint er.
Zentralrats-Generalsekretär Yazidi drängt eher auf mehr Solidarität der Gesellschaft. "Natürlich erwarten wir von den Sicherheitsbehörden bei konkreter Gefährdungslage auch einen Schutz vor Ort", sagt er. "Aber was wir noch mehr erwarten, ist angesichts der Zunahme des antimuslimischen Rassismus mehr Solidarität, mehr Empathie, mehr Engagement zur Normalisierung muslimischen Lebens in Deutschland, zur Inklusion der Muslime und ihrer Gemeinden und ihres gesellschaftlichen Engagements in unserer deutschen Bürgerschaft."
Er wünscht sich ausdrücklich, dass Politikerinnen und Politiker auch durch Besuche von Moscheegemeinden demonstrativ zeigen, dass Muslime zu Deutschland gehörten.
Schon seit längerem bemühen sich Moscheegemeinden durchaus um eigene Schutzmaßnahmen, einige ernennen auch Sicherheitsbeauftragte. Der Zentralrat der Muslime appelliert an seine Gemeinden, am europaweiten SOAR-Programm teilzunehmen, das die Europäische Kommission unterstützt.
SOAR steht für "Stärkung der Sicherheit und Widerstandsfähigkeit gefährdeter religiöser Stätten und Gemeinschaften". Hinter dem Programm stehen Expertinnen und Experten, die weltweit religiösen Minderheiten beim Schutz ihrer Einrichtungen helfen. Nun sind sie seit 2021 unter anderem auch in Frankreich und Deutschland tätig. In diesem Jahr geht es gezielt darum, Frauen zu stärken. Der nächste Kurs beginnt im September.
© Deutsche Welle 2023