Europas erster muslimischer Regierungschef

Es ist ein historisches Datum: Mit Humza Yousaf bekleidet erstmals in Europa ein Migrant und ein Muslim den Posten eines Regierungschefs. Wahr ist aber auch: Veränderungen in der politischen Elite bedeuten nicht zwangsläufig Veränderungen im gesellschaftlichen Alltag meint Shady Lewis Botros.
Es ist ein historisches Datum: Mit Humza Yousaf bekleidet erstmals in Europa ein Migrant und ein Muslim den Posten eines Regierungschefs. Wahr ist aber auch: Veränderungen in der politischen Elite bedeuten nicht zwangsläufig Veränderungen im gesellschaftlichen Alltag meint Shady Lewis Botros.

Es ist ein historisches Datum: Mit Humza Yousaf bekleidet erstmals in Europa ein Migrant und Muslim den Posten eines Regierungschefs. Aber Veränderungen in der politischen Elite bedeuten nicht zwangsläufig Veränderungen im gesellschaftlichen Alltag. Ein Kommentar von Shady Lewis Botros

Von Shady Lewis Botros

Nach seiner Wahl zum Vorsitzenden der Schottischen Nationalpartei (SNP) wandte sich Humza Yousaf in seiner Siegesrede an die Mitglieder der Partei. Er erinnerte an seine pakistanischen Vorfahren, die in den 1970er Jahren ins Land gekommen waren, um hier zu arbeiten: sein Großvater in einer Nähmaschinenfabrik von Singer und seine Großmutter als Ticket-Kontrolleurin im öffentlichen Nahverkehr. In ihren kühnsten Träumen hätten diese sich nicht vorstellen können, dass ihr Enkel eines Tages zum schottischen Regierungschef gewählt werden würde!

Was heute ohne weiteres möglich und in Großbritannien politischer Alltag ist, wäre vor wenigen Jahrzehnten noch unvorstellbar gewesen. Der ethnische und konfessionelle Hintergrund Humza Yousafs wurde in den britischen Medien nur am Rande thematisiert und nur wenig gefeiert. Vielmehr konzentrierten sich Berichterstattung und Analysen auf die tiefe innerparteiliche Zerrissenheit und die damit einhergehende sinkende Popularität der SNP sowie auf die zweifelhafte politische Bilanz Yousafs in seiner früheren Rolle als Transport- und später Gesundheitsminister.

Parteipolitisch steht Yousaf für Kontinuität. Seiner Vorgängerin Nicola Sturgon steht er politisch nahe und galt als deren Wunschnachfolger. Die SNP steht dagegen vor einem Balanceakt. Aufgrund ihrer monothematischen Fixierung auf die Abspaltung vom Vereinigten Königreich wird es für ihren inneren Zusammenhalt entscheidend darauf ankommen, nach dem Rücktritt von Sturgeon einen reibungslosen Machtwechsel herbeizuführen. Denn unter dem gemeinsamen Dach der Unabhängigkeitsbestrebungen versammelt die SNP ein breites Spektrum politischer und ideologischer Strömungen.



I will be a First Minister who will govern for all of Scotland, your priorities will be my priorities. I will work tirelessly to serve you, the people of Scotland. I hope I can do you proud. pic.twitter.com/w7z12B0QBT

— Humza Yousaf (@HumzaYousaf) March 31, 2023

 

Vereidigung im grünen Kilt

Das Rennen gegen seine Konkurrentin Kate Forbes hatte Yousaf nur knapp für sich entschieden. Während Forbes für den sozialkonservativen und wirtschaftspolitisch rechten Parteiflügel steht, vertritt Yousaf den gesellschaftspolitisch liberalen Flügel, der wirtschaftspolitisch einen Mitte-Links-Kurs präferiert.



Für den Fall, dass Forbes sich in der Abstimmung durchgesetzt hätte, hatte der grüne Koalitionspartner bereits mit dem Ende der Zusammenarbeit in der Regierung gedroht. Vor dem Hintergrund dieser Mischung aus parteiinternem Ringen um den richtigen Kurs und Druck von außen kam der historische Sieg Yousafs zustande.

Im Jahr 2016 war Yousaf erstmals als Abgeordneter in das schottische Parlament eingezogen. Bei seiner Vereidigung trug er einen grünen Kilt, die schottische Nationaltracht. Üblicherweise legen die frisch gewählten schottischen Abgeordneten ihren Amtseid in englischer Sprache und anschließend in einer der regionalen Sprachen wie dem Gälischen ab.



Yousaf dagegen sprach seine Eidesformel auf Urdu - ganz so, als sei dieses eine der Nationalsprachen Schottlands. Diese Szene war ein typisches und zugleich irritierendes Beispiel für den britischen Multikulturalismus. Dessen Erfolg zeigt sich besonders, wenn man auf die Einwanderungspolitik anderer europäische Länder schaut, die Integration und Assimilation zum Ziel erklärt haben.

In Westminster führt mit Richi Sunak ein indischstämmiger Premierminister die Regierung an, der seinen Amtseid auf die Bhagavad Gita, die heilige Schrift der Hindus, schwor. Der Posten des Londoner Bürgermeisters - traditionell ein Sprungbrett ins Amt des Premierministers - wird in zweiter Amtszeit von Sadiq Aman Khan besetzt, einem weiteren Abkömmling pakistanischer Migranten, der der Ahmadiyya-Gemeinde angehört.

 

 

Vorbild für den gesellschaftlichen Alltag?

Die gesamte politische Landschaft Großbritanniens ist von einem hohen Maß an Diversität geprägt. Im Falle Humza Yousafs kommt eine weitere Dimension hinzu: Er ist nicht nur der erste Muslim und Migrant als gewählter Regierungschef in Europa, sondern er gelangte in dieses Amt ausgerechnet als Chef der im Kern identitären Schottischen Nationalpartei.



Hier zeigt sich in aller Deutlichkeit, wie flexibel politische Identitäten im postimperialistischen Zeitalter geworden sind und wie sie Vielfalt ermöglichen und gleichzeitig integrierend wirken können.

Denn die Schottische Nationalpartei ist im Kern eine Partei, die ihre Popularität der historischen Feindschaft gegenüber England und der Londoner Regierung sowie starken separatistischen Tendenzen auf kultureller und ethnischer Grundlage verdankt.



Diese Partei wählte nun einen dunkelhäutigen Muslim, der Urdu spricht, zu ihrem nationalen schottischen Anführer. Auch Yousafs Frau Nadia El Nakla ist Politikerin und Abgeordnete der gleichen Partei in einem Kommunalparlament. Sie ist stolz auf ihre palästinensischen Wurzeln und ihre Familie lebt bis heute im Gazastreifen. El Nakla engagiert sich stark für palästinensische Rechte.

Wahr ist aber auch: Veränderungen in der politischen Elite bedeuten nicht zwangsläufig Veränderungen im gesellschaftlichen Alltag. Das erfuhr nicht zuletzt Yousaf selbst. Erst vor zwei Jahren wandte sich Yousaf an die Justiz, um einen Kindergarten wegen Diskriminierung zu verklagen, der seiner Tochter aus ethnischen Gründen die Aufnahme verweigert hatte.

Shady Lewis Botros

© Qantara.de 2023

Aus dem Arabischen übersetzt von Daniel Falk.