"Das Integrationsparadigma hat auffallende Ähnlichkeiten mit Assimilation“

Die Berliner Islamwissenschaftlerin Schirin Amir-Moazami fordert, wir müssten uns kritischer mit den sozialen und politischen Bedingungen auseinandersetzen, unter denen Muslime in Europa eingewandert sind und leben. Interview von Claudia Mende

Von Claudia Mende

Frau Amir-Moazami, das Wort "integrieren“ ist zunächst mal positiv besetzt. Was kritisieren Sie an Integration?   

Schirin Amir-Moazami: Integration ist auf jeden Fall besser als explizite Ausgrenzung oder Absonderung von Eingewanderten. Wenn ich mir Integration kritisch anschaue, dann will ich in keinem Fall das anpreisen, was gemeinhin als Gegenteil bezeichnet wird: Rassismus, Islamophobie oder Ausgrenzung.  

Mit Integration sind auch sehr unterschiedliche politische Strategien verbunden. Sie reichen von Maßnahmen, die auf der Idee von Teilhabe der noch nicht partizipierenden Eingewanderten und den nachfolgenden Generationen abzielen, bis hin zu der Idee, dass sich Eingewanderte und die Folgegenerationen an ein wie immer geartetes Ganzes anpassen sollen.



Ich bin dem Integrationsparadigma gegenüber kritisch geworden, nachdem ich untersucht habe, wie es in der politischen Praxis und insbesondere auf staatlicher Ebene in europäischen Gesellschaften vor allem in Deutschland funktioniert. Und da funktioniert es nicht in erster Linie so, wie es auf Anhieb erscheinen könnte, als Einschluss, sondern hat es enthält sehr konkrete Ausschlussmechanismen. 

Cover von Interrogating Muslims von Schirin Amir-Moazami, erschienen bei Bloomsbury; Quelle: Verlag
In ihrem Buch "Interrogating Muslims“ (Bloomsbury 2022) analysiert die Berliner Islamwissenschaftlerin Schirin Amir-Moazami die Argumentationsmuster hinter der deutschen Integrationspolitik. "Wir müssen uns kritischer mit den sozialen und politischen Bedingungen auseinandersetzen, unter denen Muslime in Europa eingewandert sind und leben,“ sagt Amir-Moazami. "Stattdessen werden Floskeln wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte in den Raum geworfen und immer nur danach gefragt, wie sich Muslime dazu verhalten sollen. Es werden öffentlich zu wenige muslimische Stimmen gehört, die andere Narrative befördern würden.“ 

Welche sind das?  

Amir-Moazami: Bei genauem Hinsehen wird deutlich, dass ein Ideal von einem intakten Ganzen konstruiert wird, in das sich marginalisierte und als problematisch erachtete Ränder einfügen sollen.  

Obwohl der Begriff "Integration“ in seiner Entstehungsgeschichte zunächst nichts mit Einwanderung zu tun hatte, wird er immer dann mobilisiert, wenn die Gesellschaft aufgrund von Einwanderung als gefährdet und fragmentiert verhandelt wird.



Das Auseinanderbröckeln des sozialen Kitts der Gesellschaft wird also immer auf den eingewanderten Anderen projiziert. Diesem Mechanismus wollte ich in meinem Buch nachgehen.  

Interessanterweise wurde Integration als politisches Programm hierzulande in dem Moment vermehrt auf den Plan gerufen, als Eingewanderte ein fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft geworden sind.

Das ist ein Paradox: Wenn Eingewanderte in unterschiedlichster Weise an der Gesellschaft teilhaben, warum müssen sie integriert werden und worein?  

Versteht man dann die Gesellschaft als eine Einheit, während es Menschen gibt, die außerhalb stehen und in diese Einheit hineingeholt werden müssen?  

Amir-Moazami: Genau, oder besser: Diese Einheit wird erdacht und ersehnt, und Gesellschaft wird als holistisches Ganzes verstanden und mit dem Nationalstaat gleichgesetzt.



Erst diese Vorstellung von einer idealisierten Mehrheit schafft Minderheiten, die entweder durch Disziplinierung oder durch Erziehung in den Gesellschaftskörper reingeholt werden müssen. Dieses Schema hat auffallende Ähnlichkeiten mit Assimilation.  

Die Minderheit wird problematisiert

Lassen sich denn Assimilation und Integration überhaupt klar voneinander abgrenzen?  

Amir-Moazami: Ich versuche zu zeigen, dass es sich um zwei unterschiedliche politische Strategien handelt, die teilweise aber sehr ähnliche Effekte haben. Assimilation hat eine andere Begriffsgeschichte und kommt eigentlich aus der Biologie. Assimilation meint die Absorption von einem Element in einen größeren Organismus und hat sich aus der Biologie in die Sozialwissenschaften hineingeschlichen. Im Zuge der Entstehung moderner Nationalstaaten wurden dann Minderheiten aufgefordert, ihren ganzen kulturellen Ballast hinter sich zu lassen und sich in den Volkskörper einverleiben zu lassen.   

Der Begriff Integration hat zwar Anleihen an Assimilation, aber unter den Bedingungen institutionalisierter liberaler Freiheiten, wachsender globaler Verflechtungen und auch der Reflexion dieser düsteren Vergangenheit ist der Begriff doch anders konnotiert. Integration kann auch Anerkennung oder Teilhabe bedeuten. Aber auch dabei bedarf es einer Instanz, die Anerkennung oder Teilhabe verwaltet und die die Bedingungen der Anerkennung oder Teilhabe festlegt.   

Heißt das, unter dem Label des Integrierens findet Ausgrenzung statt?  

Amir-Moazami: Beim Appell, sich zu integrieren, wird immer nur die Minderheit problematisiert. Die Mehrheit bleibt hingegen unmarkiert. Dabei geht es nicht nur um Ausgrenzung, sondern auch darum, diese als problematisch adressierte Minderheit auf den "richtigen Weg“ zu bringen, sie zu erziehen und zu gefügigen und mündigen Bürgern zu machen. Die anderen sollen also so werden, wie "wir“ gern wären. 

Dies beinhaltet aber durchaus auch Ausgrenzung. Denn, wie es die häufig beschworene Integrationsformel "Fördern und Fordern“ andeutet, ist Integration immer an bestimmte Bedingungen geknüpft. Diese Bedingungen wandeln sich aber ständig, und sie sind stets abhängig von denjenigen, die sie festlegen. Mal ist es eine wie auch immer geartete "Leitkultur“, mal sind es nur abstrakte Verfassungsprinzipien, die aber bei näherem Hinsehen auch an soziale Konventionen gebunden sind. Daher wissen wir nie, wann jemand als wahrhaftig integriert gilt.   



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Inwiefern sind hier alte Muster am Werk?  

Amir-Moazami: Bei der Assimilation im 19. Jahrhundert konnten Jüdinnen und Juden damals machen, was sie wollten, sich deutscher zeigen als alle Deutschen, alle jüdischen Traditionen abwerfen und hinter sich lassen, ja, sie sogar lauthals verdammen. Und dennoch blieben sie die "unverbesserlichen Juden“, wie es der Sozialtheoretiker Zygmund Baumann ausdrückte.



Etwas Ähnliches sehen wir heute auch. So werden z.B. selbst jene Muslime, die lautstark Aufklärung und europäische Errungenschaften preisen, zwar gern öffentlich gehört, zugleich aber immer noch nach ihrer "Herkunft“ oder "Abstammung“ sortiert. 

Sie sagen, nach dem Integrationsparadigma müsse man Einwanderer und ihre Nachkommen erst zu liberalen Subjekten erziehen und bezeichnen die Dialogpolitik des Staates, wie sie zum Beispiel in der Islamkonferenz (DIK) zum Ausdruck kommt, als paternalistisch. Warum?  

Amir-Moazami: Ich kritisiere die DIK nicht, weil ich grundsätzlich gegen Dialog wäre. Im Gegenteil, Dialog ist wichtig und richtig. Aber die Art und Weise, wie dieser Dialog funktioniert, hatte von Anfang an einen sehr paternalistischen Zug.



Der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat zum Auftakt der DIK im Jahr 2006 ausgerufen, aus den Muslimen in Deutschland sollten deutsche Muslime werden, der Islam in Deutschland solle also zu einem deutschen Islam werden. Das klingt zunächst wohlwollend, ist aber zugleich sonderbar, weil die meisten ja längst deutsche Staatsbürger waren.



Außerdem hat er im nächsten Atemzug die Probleme benannt, die er im Dialog angehen wollte: “islamische Geschlechternormen“, "das Kopftuch“, "Islamismus“. Kaum ein Wort zu einer Gesellschaft, die so lange gebraucht hat, um sich als Einwanderungsgesellschaft zu verstehen, kein Wort zum schwelenden oder offenkundigen Rassismus in diesem Land oder zu den ungleichen sozialen Ausgangsbedingungen des "Dialogs auf Augenhöhe“.

Rechtspopulisten demonstrieren am Berliner Hauptbahnhof; Foto: picture-alliance/dpa/E.v. Jutrcznk
Defizite liegen immer nur bei den Anderen: In der Dialogpolitik des Staates gegenüber Zugewanderten geht es meist um die "Bringschuld“ der Eingewanderten. Dann werden Themen wie “islamische Geschlechternormen“, "Islamismus“, oder "das Kopftuch“ angesprochen. "Kaum ein Wort zu einer Gesellschaft, die so lange gebraucht hat, um sich als Einwanderungsgesellschaft zu verstehen, kein Wort zum schwelenden oder offenkundigen Rassismus in diesem Land oder zu den ungleichen sozialen Ausgangsbedingungen des 'Dialogs auf Augenhöhe'", sagt Schirin Amir-Moazami. Auf dem Bild sind Proteste von Islamfeinden vor dem Berliner Hauptbahnhof zu sehen.

Defizite liegen immer nur bei den Zugewanderten

Die Defizite lagen von Anfang an nur bei den Anderen. Sie wurden zwar mit Willkommensgrüßen zum Dialog eingeladen, aber warum sollten Menschen, die schon seit Generationen hier leben, überhaupt willkommen geheißen werden?    

Schon in der Anlage der DIK ist klar, es handelt sich um eine Veranstaltung, die Muslime zähmen sollte. Die DIK hat eine Vorgeschichte, die auf Otto Schily (SPD) zurückgeht, der sich das nach dem 11. September 2001 vor allem als Sicherheitsdialog gedacht hat. Dieser Sicherheitsaspekt war also von Anfang an zentral. Schily hat übrigens ohne Umschweife von "Assimilation“ gesprochen.  

Es ging zwar auch um die Anerkennung von Muslimen – zumindest um symbolpolitische, nicht unbedingt um die rechtliche Anerkennung des Islam. Die erste und übergeordnete Dimension war eine sicherheitspolitische. 

"Zähmen“ ist ein hartes Wort. Wie ist denn der erwünschte Muslim? Ist das überhaupt noch ein Muslim?  

Amir-Moazami: Ich würde niemandem sein Muslimsein absprechen; es gibt sehr unterschiedliche Formen, ein Muslim zu sein. Aber es ist klar, dass sich am ehesten diejenigen Stimmen öffentlich und politisch Gehör verschaffen, die unkritisch europäische Errungenschaften preisen und zwar abzüglich Kolonialismus oder Rassismus.  

Die Vorstellung, wie Muslime sein sollen, wenn sie integriert sind, orientiert sich an einem Wunschkonzert, das nicht viel mit sozialen Realitäten zu tun hat. So etwas wie "gezähmte Religion“ oder "säkularisierte Religion“, also Vorstellungen, die die deutsche Gesellschaft für sich in Anspruch nimmt, werden im Rahmen solcher Dialogveranstaltungen wie der DIK erst konstruiert, während der Andere als noch nicht kompatibel und defizitär und als noch nicht diesen Ansprüchen genügend betrachtet wird.

Andere Narrative werden zu wenig gehört

In der Integrationsdebatte werden immer wieder die gleichen Fragen gestellt, siehe zuletzt nach den Silvesterkrawallen in Berlin. Dann heißt es, Muslime wären wegen ihres Muslimseins nicht kompatibel mit der Gesellschaft, während soziale Faktoren von Problemen ausgeblendet werden. Sehen Sie eine Chance, diese Engführung zu überwinden?    

Amir-Moazami: Ich sehe durchaus Potentiale für eine kritische Auseinandersetzung mit dieser einseitigen Fragerichtung und der "Islamisierung“ sozialer Probleme. In der Forschung wird darüber seit langem schon kritisch diskutiert, und auch einzelne muslimische Akteure stellen das in Frage. Aber dann gibt es auch den medialen Diskurs, der sich umso mehr zu verhärten scheint, je mehr Kritik sich am Diskursrahmen regt.  

Die mediale Diskussion über den Islam ist verheerend, aber es gibt auch Gegenöffentlichkeiten, die kritische oder dekoloniale Perspektiven diskutieren oder die Rassismus benennen, und manchmal schwappt etwas davon über in die Mainstream-Medien.  

Wir müssen uns kritischer mit den sozialen und politischen Bedingungen auseinandersetzen, unter denen Muslime in Europa eingewandert sind und leben. Stattdessen werden Floskeln wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte in den Raum geworfen und immer nur danach gefragt, wie sich Muslime dazu verhalten sollen. Es werden öffentlich zu wenige muslimische Stimmen gehört, die andere Narrative befördern würden.  



 



 

Aber solche Stimmen gibt es doch.  

Amir-Moazami: Diese Stimmen existieren durchaus, aber sie werden nicht gehört und ich glaube das hängt ganz stark damit zusammen, dass der große Rahmen und die ungleichen Ausgangsbedingungen der Deutungshoheiten nicht reflektiert werden. Zu diesem Rahmen gehört auch die Feststellung, dass der säkulare Verfassungsstaat nicht neutral, sondern von christlichen Privilegien durchdrungen ist.  

Wenn die ungleichen Ausgangsbedingungen deutlicher benannt würden, kämen wir vielleicht zu mehr Gleichheit. Stattdessen wird immer wieder beschwörend betont: "Wir sind doch alle gleich und alle könnten die gleichen liberalen Freiheiten in Anspruch nehmen“. In der Praxis stimmt das aber nicht.  

Was kann die Kritik am Integrationsparadigma in der Praxis verändern?   

Amir-Moazami: Wenn man sich die Engführungen des Integrationsparadoxes bewusst macht, dann kann man sich auch die Frage stellen, was kann ich verändern. Solche Veränderungen finden bereits statt, aber es gibt immer noch Reflexe, wo wir einen Backlash erleben: Strukturelle Ungleichheiten lassen sich nicht mit kosmetischen Integrationseingriffen beheben.  

Gerade weil immer wieder von Reziprozität die Rede ist, müsste sich neben der kritischen Selbstbefragung auch eine bessere Ethik des Zuhörens herausbilden. Anstatt ständig zu fragen, ob sich religiöse Minderheiten anpassen können, müsste die Frage gestellt werden, wie europäische Nationalstaaten der wachsenden Pluralisierung gerecht werden können, ohne dass am Ende doch immer wieder ein nationaler Kern beansprucht wird.  

Das Interview führte Claudia Mende.

© Qantara.de 2023

Schirin Amir-Moazami ist Professorin am Institut für Islamwissenschaften der Freien Universität Berlin. Sie forscht zu Religionspolitiken in Europa, Säkularismus, Politischer Theorie, Geschlechterfragen und islamischen Bewegungen in Europa.