Was haben Bhagavad Gita und Koran gemeinsam?
Wenn alle Zeichen auf Polarisierung stehen, sind es meist die leisen Stimmen – jene, die für authentisches Verstehen werben – die untergehen. Dies gilt auch für Indien, das in den letzten sechs Jahren einen starken Rechtsruck durchgemacht hat. Die fortwährende Politik des Hindu-Nationalismus unter Premierminister Narendra Modi hat die 195 Millionen Muslime des Landes entfremdet und stigmatisiert.
Zuletzt bestätigte Modi seinen Kurs im August, als er unter strengen Sicherheitsvorkehrungen bei der Grundsteinlegung des Ram-Tempels auf den Ruinen eines muslimischen Gotteshauses in Ayodhya auftrat – ein Vorhaben, für das die Aktivisten der Hindutva-Bewegung lange gekämpft hatten. Der Kampf um die heilige Stätte in Ayodhya ist seit der Zerstörung der Babri-Moschee im Jahr 1993 ein Symbol für Indiens schwelende interreligiöse Konflikte. Diese flammen seit der Unabhängigkeit des Landes immer wieder auf und führen mitunter zu gewaltvollen Exzessen; auch wenn Hindus und Muslime in den meisten Regionen friedvoll koexistieren.
Dabei besitzt Indien eine lange Geschichte des Pluralismus und interreligiösen Dialogs, an die auch heute noch Intellektuelle anknüpfen. Moosa Raza, Polyglott, Islamwissenschaftler und indischer Staatsbeamter im Ruhestand, ist einer von ihnen. Nach dem Ende seiner Karriere im Staatsdienst schrieb Raza das Buch "In Search of Oneness. Bhagavad Gita and Qur’an through Sufi Eyes”, eine Studie, die Gemeinsamkeiten zwischen den zwei wichtigsten heiligen Schriften des Subkontinents aufzeigen will.
Raza arbeitete jahrzehntelang im Herzen des politischen Systems, unter anderem als Chefsekretär des Ministerpräsidenten von Gujarat, jenem Bundesstaat, in dem Modi zuerst an die Macht gelangte. Gujarat wird von Muslimen noch heute mit den blutigen anti-muslimischen Pogromen im Jahr 2002 assoziiert. Razas Buch basiert auf einer Reihe von Vorlesungen, die er nach den Gewaltausbrüchen im selben Jahr an einer nordindischen Universität hielt.
Suche jenseits des tradierten Glaubens
Der Autor entstammt einer traditionell muslimischen Familie, beschreibt seine Eltern als “einfache Leute, die früh am Morgen aufstanden, ihre Gebetswaschungen durchführten, sich auf dem Gebetsteppich niederwarfen und sich dann mit ihren täglichen Aufgaben beschäftigten".
Doch Raza gab sich nicht mit dem von den Eltern tradierten Glauben zufrieden, lebte als junger Mann einige Zeit als Atheist und stellte sich Fragen rund um den Sinn des Lebens. Um Antworten zu finden, las er die Schriften der Weltreligionen und vertiefte sich in Sufi-Klassiker. Dabei entwickelte er eine Affinität zur Bhagavad Gita.
Die meistgelesene Schrift der Hindu-Tradition ist eingebettet in das berühmte Mahabharata-Epos. Die Gita besteht aus einem Dialog zwischen Krishna und seinem Schüler Arjuna, der mit der Armee der Pandavas gegen seine eigenen Verwandten, die Kauravas, in den Krieg ziehen soll.
Die Rahmenhandlung der Gita auf dem Schlachtfeld Kurukshetra, heute in der Nähe von Neu-Delhi gelegen, ist ein Symbol für den inneren Kampf des Menschen gegen sein eigenes Ego – eine Kernthema der Mystiker, das sich auch im Zentrum der Sufi-Lehren befindet.
Und so ist es kein Wunder, dass Raza in den neun Kapiteln seiner Studie zahlreiche Parallelen zwischen der Gita und seiner eigenen Tradition, dem mystischen Islam, aufführt.
Im Vorwort schreibt Raza: “Es ist sehr bedauerlich, dass, obwohl die Hindus und die Muslime in Indien seit mehr als tausend Jahren zusammenleben, das Wissen über die religiösen Bücher des jeweils Anderen oft nicht vorhanden und, falls vorhanden, im Allgemeinen oberflächlich ist.”
Tatsächlich grassieren in beiden Religionsgemeinschaften oft Vorurteile und Unverständnis gegenüber der jeweils anderen Seite. Orthodoxe Muslime betrachten die Religionspraxis der Hindus mit Skepsis – scheint doch der bunte Hinduismus mit seinen unzähligen Gottheiten grundlegend dem islamischen Bilderverbot zuwiderzulaufen.
In der Konsequenz sehen manche indische Muslime in den Hindus Polytheisten, die sozusagen immer noch in einer Art “Dschahiliyya”, einem Zustand der Ignoranz, leben – ähnlich wie die arabischen Stämme vor der Offenbarung des Islam an den Propheten Mohammed. Orthodoxe Hindus, auf der anderen Seite, stellen den Koran gerne als gewaltverherrlichendes Buch dar, das mit der indischen Kultur nichts gemein und nur Elend und Eroberung über den Subkontinent gebracht habe. Sie sehen die Rettung von “Bharat Mata”, der Mutter Indien, in einer Tilgung von allen “fremden”, islamischen Einflüsse.
Bhagavad Gita als Einweisung ins "tawhid"
Dabei gibt es durchaus historische Beispiele für die spirituelle Erforschung der Gita von muslimischer Seite, wie Raza darlegt: Der persische Universalgelehrte Al-Biruni (973-1048) gehörte zu einer Reihe von islamischen Theologen, die Kommentare zur Bhagavad Gita verfassten. Abdurrahman Chishti, ein Sufi aus dem 16. Jahrhundert, betont in seinen Schriften, dass Krishna in der Bhagavad Gita seinen Schüler Arjuna in Wirklichkeit in die Geheimnisse des tawhid, des islamischen Prinzips der Einheit, einweise.
Raza versteht es hervorragend, Autobiografisches mit den Lehren der zwei heiligen Schriften, aber auch mit Zitaten europäischer Philosophen und moderner Denker zu verweben. In Anekdoten porträtiert er Mentoren aus seinem eigenen Leben, welche die geistigen Lehren der zwei Bücher verkörperten und sie in die Tat umsetzten – charakterstarke Lokalpolitiker oder Lehrer, die für das Wohl ihrer Studenten arbeiteten.
Sie lebten, wie Raza erläutert, im Bewusstsein, dass Gott in unseren Herzen wohnt (Gita, 18:61) und uns näher ist als unsere eigene Halsschlagader (Koran, 50:16). Ob es wie in der Gita “nishkama karma” (wunschloses Handeln) oder im Koran “amal salih” (gute Tat) heißt, gemeint sei damit das eine: selbstloses Handeln im Dienst an anderen Menschen.
Razas religionsübergreifende Ethik scheint besonders in Zeiten der Spaltung ein wichtiger Wegweiser: "Die größte Lektion, die mich sowohl die Gita als auch der Koran lehrten, war, die zugrunde liegende Einheit in der Vielfalt von Gottes Schöpfung zu sehen. (…) Wer glaubt, dass Gott Einer ist und dass die Menschen ihn aufgrund der durch Geografie, Klima, Sprache und Zeit auferlegten Beschränkungen mit anderen Namen bezeichnen, wird niemals Menschen aufgrund von Religionen, Kasten, Glaubensbekenntnissen und ethnischer Zugehörigkeit diskriminieren.”
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Moosa Raza: “In Search of Oneness. The Bhagavad Gita and The Quran Through Sufi Eyes”, Penguin UK 2012, 256 Seiten, ISBN 978-8-1847-5672-2.