"Wir verkaufen Menschen, wir verkaufen Seelen"
Ein schwarzer Jeep hält am Straßenrand. Aus dem Schatten nähert sich ein junges Mädchen und greift nach einem Päckchen, das der Beifahrer aus dem Fenster hält. Blitzschnell steigen die Männer aus und zerren das schreiende Kind in den Wagen, der mit quietschenden Reifen in die Nacht davon rast. Das Mädchen hat Glück, im Gegensatz zu den beiden Jungen, die auch in jener Nacht entführt werden. Ihnen werden Organe entnommen, ihre Leichen in einem Loch im Hof mit Beton zugeschüttet. Das Mädchen wird von El Ott , dem von Amr Waked gespielten Helden in Ibrahim El Batouts neuem Film, gerettet und den Entführern entrissen.
Schon die Anfangssequenz von El Batouts "El Ott" (Arabisch für "Die Katze") rüttelt auf. Sein neuer Film ist ein Gangster-Epos über menschliche Abgründe, eine materialistische Konsumgesellschaft, in der das Leben des Einzelnen nichts mehr wert ist, und eine Parallelgesellschaft, in der Ausbeutung, Unterdrückung und Rache regieren. Auch wenn der Film grundlegende Konflikte berührt, die für den Ausbruch der ägyptischen Revolution entscheidend waren – Ungerechtigkeit, Perspektivlosigkeit und Armut – handelt der Film nicht vom Aufstand 2011.
"Der Film beschäftigt sich mit menschlicher Unterdrückung und wie diese zu einer solchen Explosion führen kann", betont Al Hanafy, einer der Hauptdarsteller und Koproduzent des Films. "Vor einigen Jahren haben wir in Kairos Altstadt einen Dokumentarfilm gedreht und fanden heraus, dass hier Menschen ihre Nieren verkauft haben, um Geld für ihre Hochzeit und eine neue Wohnung zusammenzukratzen. Sie verkauften ihre Niere für eine Unterkunft und eine Familie, für menschliche Grundbedürfnisse", so Al Hanafy. "El Batout, der in vielen Ländern als Kriegsreporter an der Front gearbeitet und viel menschliches Leid gesehen hat, ließ das Thema nicht mehr los. Wir entschieden uns daher, das Thema Menschenhandel in Kairo filmisch umzusetzen."
Rachefeldzug gegen skrupellose Profiteure
"El Ott" erzählt die Geschichte eines Mannes, dessen Tochter spurlos verschwunden ist und der beschließt, den menschenverachtenden Machenschaften einer Organhändlergang auf eigene Faust entgegenzutreten. Eiskalt schlagen "El Ott" und seine Mitstreiter zu, machen einen Mittelsmann in Kairos Stadtzentrum ausfindig und töten ihn auf offener Straße. Der Film verdreht die Rollen und macht die skrupellosen Kinder-Jäger zu Gejagten. Gangster-Boss Hadj Fathi, gespielt von Salah Al Hanafy, ist ruhelos und angespannt, wohl wissend, dass er der Nächste sein könnte, an dem El Ott Rache für dessen rücksichtslosen Taten übt.
Der Film inszeniert einen blutigen Rachefeldzug gegen jene, die sich hemmungslos und ohne Skrupel an dem Leben Unbeteiligter bedienen, um ihr eigenes Überleben in einer von Ungerechtigkeit und Gewalt geprägten Welt zu sichern.
"Warum sind alle derart opportunistisch und kümmern sich nur um ihre eigenen Interessen? Die wichtigste Folge dessen ist doch, dass wir uns an den unschuldigsten Wesen auf unserer Erde vergreifen - an unseren Kindern, die wir in Teile zerschneiden", empört sich Al Hanafy. "Im Film betrachten wir nicht den materialistisch begründeten Diebstahl an Organen oder den Organhandel an sich, sondern werfen ein Schlaglicht auf den Menschenhandel. Menschen verkaufen Menschen um zu überleben. Doch wie sind wir so materialistisch geworden, dass heute alles zum Verkauf steht? Das ist ein weltweites Problem. Wir verkaufen Menschen, wir verkaufen Seelen."
Der Film steckt voller Anspielungen auf die ägyptische Mythologie, El Batout stellt Bräuche und Glauben der alten Pharaonen geschickt dem heutigen Opportunismus und Praktiken wie dem Organhandel gegenüber. "Für die Pharaonen im alten Ägypten war der menschliche Körper heilig, daraus speist sich auch die Tradition der Mumifikation der Toten. Dies war immer wichtig in unserer Zivilisation und Kultur, doch heute zerschneiden und zerstören wir den menschlichen Körper und reißen ihn auseinander", so Al Hanafy.
Ägyptens Filmindustrie in der Krise
"El Ott" feierte auf dem Abu Dhabi Film Festival in den Vereinigten Arabischen Emiraten Ende letzten Oktober seine Weltpremiere und war beim Cairo International Film Festival im November ein Publikumsmagnet. Dennoch sei der Streifen nach der Uraufführung in Abu Dhabi kontrovers aufgenommen worden. Al Hanafy wittert angesichts der scharfen Angriffe in der ägyptischen Presse auf den Film eine Kampagne gegen die Verantwortlichen der Independent-Produktion, die wenig mit professioneller Kritik zu tun habe.
Die ägyptische Filmindustrie zeichnet sich heute nicht gerade durch Kreativität aus, sondern vor allem durch Profitorientierung und Massenproduktion. Unabhängige Akteure bekommen derzeit heftigen Gegenwind. Adaptionen und Remakes dominieren heute den Filmmarkt am Nil und lassen wenig Spielraum für unabhängige Produktionen. Bürokratische Hürden machen es für unabhängige Akteure wie Al Hanafy noch zusätzlich schwer. Die letzte Kollaboration El Batouts mit Waked und Al Hanafy, der 2012 erschienene "Winter of Discontent", war - trotz schleppender Ticketverkäufe - die dennoch bisher erfolgreichste Independent-Produktion und hielt sich vier Monate in den Kinos des Landes.
Die ägyptische Filmindustrie stecke in einer Krise, meint Al Hanafy. "Was wir heute beobachten ist ein Handel: Die Industrie kauft Hollywood-Produktionen mit bekannten Filmstars ein und kümmert sich wenig um deren Inhalte. Viele dieser Filme sind Remakes und sollen nur Gewinn einspielen", so Al Hanafy. "Früher waren Kinos so etwas wie Museen, sie waren Kulturzentren. Heute finden wir Kinos oft in Einkaufszentren, wo sie nicht mehr sind als ein Laden neben vielen anderen Läden, in denen konsumiert wird. Dieses Phänomen finden wir nicht nur in Ägypten, sondern überall auf der Welt. Kinobesucher sind Konsumenten geworden."
Al Hanafy hingegen will neue Ideen realisieren, talentierte Drehbuchautoren und Regisseuren eine Chance geben und etwas Originelles, etwas Neues schaffen. "Wir wollen lernen, wir wollen neue Erfahrungen machen, die wir mit anderen teilen möchten. Und wir wollen andere motivieren und bestärken und einen anderen Weg gehen", sagt Al Hanafy.
Sofian Philip Naceur
© Goethe-Institut 2015