Den König zur Rechenschaft ziehen
Die abgelegenen ländlichen Gemeinden in den Bergen des Hohen und Mittleren Atlas litten in diesem Winter unter den schwersten Schneefällen seit über 50 Jahren. Dabei soll es mehrere Tote gegeben haben. Am 15. Februar lobte der marokkanische Ministerpräsident Saad Eddine El Othmani die Bemühungen der "unsichtbaren Helden" – Ärzte, Krankenpfleger, Militärangehörige und Transportarbeiter. Sie hätten für die rund eine halbe Million Marokkaner, die von den strengen Winterstürmen betroffen waren, großartige Hilfe geleistet.
Gleichzeitig gab das Innenministerium in einer gesonderten Erklärung bekannt, dass für schätzungsweise 370.000 Menschen humanitäre Hilfsleistungen geleistet werden konnte oder Evakuierungen per Hubschrauber erfolgten. Laut Angaben des Ministeriums erhielten seit November 2017 insgesamt 52.000 Familien Winternothilfe.
Isolation mit fatalen Folgen
Die von den Schneestürmen betroffenen Gemeinden sahen die Krisenbewältigung der Regierung hingegen weniger positiv. Sie kritisierten den Mangel an Präventionsmaßnahmen und die zu späte Reaktion der lokalen und regionalen Behörden. "Die Menschen sind isoliert, die Straßen blockiert, und die Bauern können ihr Vieh nicht mehr füttern", berichteten Anwohner.
Während sich die isolierten Menschen zunehmend Sorgen über mangelnde Vorräte an Lebensmitteln, Brennstoffen und Medikamenten machten, wurde in vielen Dörfern für Hilfsleistungen und die Räumung der Straßen demonstriert. In den am schwersten betroffenen Gebieten fielen über zwei Meter Schnee, die Temperaturen fielen zeitweise auf bis zu -15 Grad Celsius.
Obwohl die Marokkaner, die in den ländlichen Regionen des Atlasgebirges leben, im Winter an kalte Temperaturen gewöhnt sind, war die Lage in diesem Jahr besonders dramatisch: Über 1.200 Dörfer waren von der Außenwelt abgeschnitten und hatten über eine Woche lang keinen Zugang zu Strom und sauberem Wasser.
Dies hatte mehrere Todesfälle zur Folge: Am 30. Januar starb in der Provinz Azilal eine kranke Frau auf einer provisorischen Bahre, auf der die Dorfbewohner versucht hatten, sie zu einem nahe gelegenen Krankenhaus zu bringen. Der Vorfall, der mit einem Mobiltelefon gefilmt und in den Sozialen Medien veröffentlicht wurde, ließ erkennen, wie isoliert manche Gegenden im Atlas tatsächlich sind. In der Provinz Midelt wurde von weiteren vier Todesfällen berichtet, darunter von einem erfrorenen jungen Mann. Außerdem starb eine Frau in ihrem Haus, nachdem das Dach unter dem Gewicht des Schnees zusammengebrochen war.
Erst am 7. Februar rief die Regierung auf Anordnung des marokkanischen Königs Mohammed VI ihr Notmobilisierungsprogramm aus. Laut El Othmani sollen die Hilfsmaßnahmen insgesamt drei Monate lang andauern. Unterstützt werden sie durch den Roten Halbmond und andere Organisationen, die Pakete mit Grundnahrungsmitteln, Decken und Viehfutter an die Zivilbevölkerung verteilen sollen.
Obwohl El Othmani die heftigen Schneefälle als "unerwartet" bezeichnete, werfen diese ein Schlaglicht auf die unterentwickelten ländlichen Enklaven im Atlasgebirge. Kritiker behaupten, die strengen Wetterbedingungen hätten lediglich vor Augen geführt, wie sehr diese Regionen von der Regierung vernachlässigt werden – Regionen, deren Einwohnern es im Winter immer wieder an lebensnotwendigen Bedarfsgütern mangelt, was oft fatale Folgen hat.
So starben bereits im Winter 2006/2007 über 20 Kinder aus dem Dorf Anfgou im Hohen Atlas an Kälte und Schnee. Vier Jahre später forderten die harschen Bedingungen im gleichen Dorf weitere elf Todesopfer, darunter auch ein erst eine Woche altes Baby.
Fehlende Hilfe zur Selbsthilfe
Fast 40 Prozent der ländlichen Bevölkerung Marokkos lebt unterhalb der Armutsgrenze, was bedeutet, dass es vielen Familien an den nötigsten Mitteln mangelt, um sich vor den strengen Wintertemperaturen ausreichend schützen zu können. Said Ahbar vom marokkanischen Verein für Menschenrechte sprach mit dem Nachrichtenportal Yabiladi über die Probleme, vor denen die Dörfer in der ländlichen Provinz Midelt in diesem Monat standen: "Die Kaufkraft der Bevölkerung ist sehr gering. Manche Menschen können sich noch nicht einmal Holz zum Heizen leisten", beklagte er.
Außerdem sind die ländlichen Regionen von einer schwachen Infrastruktur gezeichnet. Die Straßen sind oft schlecht ausgebaut, die Stromversorgung ist unzureichend und es mangelt an Trinkwasser. Die Provinzregierungen behaupten zwar, ihnen stünden nicht genügend Haushaltsmittel zur Verfügung, um solchen Notsituationen angemessen begegnen zu können. Doch die ländliche Bevölkerung beschwert sich immer wieder über die grassierende Korruption und die Veruntreuung staatlicher Mittel.
In den letzten Jahren hat die marokkanische Regierung im Atlasgebirge zwar einige neue Infrastrukturprojekte realisieren können, aber nach Informationen der Weltbank mangelt es schätzungsweise 60 Prozent der Bevölkerung im Atlas noch immer an Strom, Wasser und Kanalisation.
Für manche Beobachter reichen die Ursachen für diese Probleme bis auf die Kolonialzeit zurück, als Frankreich sein Protektorat in eine ihr ökonomisch dienliche Zone sowie weniger bedeutsame Gebiete einteilte, zu denen auch ein Großteil des Atlasgebirges zählte. Bilder von Landbewohnern, die auf steinigen Bergpfaden unterwegs sind, stehen in enormem Widerspruch zu den glamourösen marokkanischen Entwicklungsprojekten in den Städten und dem Bild von faszinierenden Touristengebieten. Heute belegt Marokko gerade einmal Platz 123 auf dem weltweiten Index für menschliche Entwicklung.
Die berberische Bevölkerung trägt die Hauptlast
Unterdessen verdeutlicht diese Spaltung auch, dass die marokkanischen Amazigh-Gemeinschaften, von denen viele im Atlas-Hochland ansässig sind, immer noch vom Staat diskriminiert werden – jedenfalls nach Ansicht von Aktivisten, die sich für die Rechte der berberischen Minderheit einsetzen. Sie beschuldigen den Staat, er eigne sich widerrechtlich traditionelle Stammesgebiete an, beute dabei natürliche Ressourcen wie Holz oder Silber aus und weigere sich schließlich, die Gewinne in soziale oder wirtschaftliche Projekte zu investieren.
Als es in diesem Jahr im Atlas zu schneien begann, sammelten einige Amazigh-Organisationen Gelder für Nothilfemaßnahmen, um diese in den betroffenen Gemeinden zu verteilen. "Da jeden Tag Menschen an Kälte, Hunger und Medikamentenmangel sterben, können die Amazigh nicht bis zum Frühling auf Hilfe warten", erklärte der Organisator einer der laufenden Kampagnen. "Wir würden uns wünschen, dass König Mohammed VI. einen Teil seines Reichtums und seine staatlichen Ressourcen diesen notleidenden Regionen zur Verfügung stellt, um damit zu versuchen, diese Krise, die sich jeden Winter wiederholt, zu beenden."
Matthew Greene
© Qantara.de 2018
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff