Wo der Aufstand begann und bis heute lebt
Warum Daraa? Was ist so besonders an der 80.000 Einwohner-Stadt im Süden Syriens und Hauptstadt der gleichnamigen Provinz? Eigentlich nichts, so die einfache Antwort. Die Menschen leben von der Landwirtschaft, von lokalen Geschäften und dem legalen wie illegalen Grenzhandel mit Jordanien. Sie sind konservative Sunniten, religiös im moderaten und unpolitischen Sinn und definieren sich über ihre Zugehörigkeit zu Familienclans und Stämmen.
Und doch lohnt sich die Frage damals wie heute. Denn es war in Daraa, wo im März 2011 die ersten großen Proteste stattfanden, die ersten Demonstranten starben, die ersten Panzer rollten und die ersten Soldaten desertierten. Und es ist die Provinz Daraa, in der die gemäßigten Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA) bis heute eine nennenswerte militärische Kraft darstellen. Im Gegensatz zum restlichen Syrien, das von regime-nahen Milizen, Islamisten, Dschihadisten oder Kurden dominiert wird.
Diese herausragende Rolle hat Daraa jedoch keiner Besonderheit, sondern im Gegenteil, seiner Durchschnittlichkeit zu verdanken. Die Gegend vereint alle Gründe, die die Menschen in Syrien auf die Straße trieben – staatliche Willkür, wirtschaftliche Ungerechtigkeit, geheimdienstliche Unterdrückung, politische Unfreiheit und persönliche Perspektivlosigkeit. Eine bedrückende und explosive Mischung.
2011 leiden Daraas Bewohner unter einer jahrelangen Dürre und einer ausufernden Bürokratie. Die Geheimdienste mischen sich in den Alltag ein, gängeln Bauern und Geschäftsleute, indem sie Saatgut und Genehmigungen nur gegen Schmiergelder verteilten und bereichern sich schamlos. Verantwortlich für Korruption und Willkür ist Geheimdienstchef Atef Najib, Assads Cousin und Statthalter im Süden. Arrogant und skrupellos geht er im März 2011 den entscheidenden Schritt zu weit.
Initialzündung des Aufstands
Angeregt durch die Umbrüche in Tunesien und Ägypten malen Schulkinder regimekritische Parolen an die Mauern ihrer Schule, werden verhaftet und gefoltert. Die Familien gehen zu Najib, um die Freilassung ihrer Kinder zu fordern – vergeblich. "Vergesst diese Kinder, geht nach Hause und macht neue und wenn ihr Hilfe braucht, schickt uns eure Frauen", soll der gesagt haben. Zu viel der Erniedrigung. Am 18. März tragen Hunderte Bewohner von Daraa ihre über Jahre angestaute Wut auf die Straße.
Das Regime reagiert mit Gewalt. Vier Demonstranten werden erschossen, ihr Beerdigungszug wird zum nächsten Protestmarsch, in den folgenden Wochen solidarisieren sich Städte und Dörfer in ganz Syrien mit dem Widerstand. Für Assad sind die Demonstranten von Anfang an Terroristen und ausländische Agenten. Um diese Propaganda wahr werden zu lassen, entlässt er Dschihadisten aus dem Gefängnis, schürt konfessionellen Hass und schickt Provokateure des Geheimdienstes, um den Aufstand in ein schlechtes Licht zu rücken.
Bis zum Sommer 2011 weitet sich die Revolution zu einer landesweiten, aber dezentralen Bewegung aus, Millionen Syrer demonstrieren an Dutzenden von Orten. Assad fühlt sich bedroht, er lässt die Proteste gezielt niederschlagen – mit Scharfschützen, Panzern, Boden-Luft-Raketen, Kampfjets, Chemiewaffen und Fassbomben.
Die Revolution militarisiert und radikalisiert sich. Ausländische Akteure mischen sich ein – erst Iran, die libanesische Hisbollah und Russland auf Regimeseite, dann Qatar, Saudi-Arabien und die Türkei auf Oppositionsseite. Weil der Westen viel redet, aber wenig hilft, geraten die nationalen, gemäßigten Rebellen und der zivile Widerstand ins Hintertreffen. Angelockt vom Staatszerfall kommen ab 2013 Al-Qaida-Gruppen ins Land, heute sind IS und Al-Nusra-Front die mächtigsten unter den Assad-Gegnern.
Halbherzige Unterstützung
Nur im Süden haben gemäßigte Rebellen noch entscheidenden Einfluss. Zwar ist die Al-Nusra-Front auch in Daraa präsent, aber anders als im Norden arbeiten verschiedene FSA-Brigaden dort effektiver zusammen. Das hat mit ihrer Organisation und ihrer ausländischen Unterstützung zu tun. Ein US-geführtes "Military Operations Center" (MOC) in Jordanien kanalisiert militärische Hilfe zu den verbündeten Gruppen in Syrien, die sich zunächst im "Daraa Militärrat", später in der Südfront bzw. der Ersten Armee zusammenschließen und aus Kämpfern der Region bestehen.
Auch hier ist die Unterstützung halbherzig, so dass die FSA bei großen Operationen mit der Al-Nusra-Front zusammenarbeiten muss. Eine komplette Zerschlagung oder Übernahme ganzer Einheiten durch den Al-Qaida-Ableger wie in den nördlichen Provinzen Idlib oder Aleppo hat es in Daraa jedoch noch nicht gegeben. Zwar ist Al-Nusra den gemäßigten Rebellen militärisch überlegen, aber bislang hat die FSA im Süden zwei entscheidende Vorteile – sie hat mehr Kämpfer und den Rückhalt in der Bevölkerung. Beides ist ihr andernorts abhanden gekommen.
Im Norden müssen sich Rebelleneinheiten ihre Unterstützung selbst organisieren, indem sie im türkischen Grenzgebiet Mittelsmänner aus Washington, London, Doha oder Riad treffen. Dabei konkurrieren sie auch noch untereinander um die wenigen Finanziers, was eine Zusammenarbeit erschwert.
Für die FSA im Süden gibt es dagegen mit dem MOC einen Ansprechpartner, der die ausländische Unterstützung (der USA, Großbritanniens, Frankreichs, Saudi-Arabiens, der Vereinigten Arabischen Emirate und Jordaniens) bündelt, und somit eine immerhin geordnete wenn auch beschränkte Finanzierung. Die schon lange geforderte Kommandostruktur ist deshalb im Süden zumindest in Ansätzen vorhanden.
Daneben kümmern sich zivilgesellschaftliche Organisationen effektiv um Verwaltung und Versorgung in den "befreiten" Gebieten, sagt Khaled Yacoub Oweis, ehemaliger Reuters-Korrespondent in Syrien und derzeit Stipendiat bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Oweis hat die Lage im Süden untersucht und festgestellt, dass die Infrastruktur im Gegensatz zum Norden des Landes weitgehend verschont geblieben ist, weil beide Seiten sich gegenseitig brauchen. So liefere Daraa Wasser in die vom Regime kontrollierte Nachbarprovinz Sweida, während umgekehrt Sweida Daraa mit Strom versorge.
Getrübte Friedensaussichten
Insgesamt erscheint das Kräfteverhältnis zwischen Regime und Opposition im Süden ausgewogener, was auch die Chancen für lokale Waffenstillstände erhöht, meint der Journalist. Bislang kamen Feuerpausen fast überall einer Kapitulation der Rebellen gleich, das Regime nutzte sie zur Wiederherstellung seiner Macht.
Entsprechend skeptisch reagiert die Opposition auf den Vorschlag des UN-Sondergesandten Staffan de Mistura, die Kämpfe in Aleppo vorübergehend einzufrieren. Oweis hält den Süden für geeigneter, um dauerhafte Waffenruhen durchzusetzen, denn dort haben beide Seiten ähnlich starke Verhandlungspositionen, was zu nachhaltigen Kompromissen führen könnte.
Doch Assad hat andere Pläne. Mit einer von Iran und Hisbollah unterstützten Offensive im Süden versucht er derzeit, den nationalen Widerstand zu schwächen und gemäßigte Rebellen in die Hände von Al-Nusra und des IS zu treiben. Dann kann er seinen schonungslosen Krieg gegen Syriens Zivilisten auch dort zum Anti-Terror-Kampf deklarieren.
Daneben ist die Region strategisch wichtig als Verbindungsachse zwischen Damaskus und Jordanien und wegen ihrer Nähe zu den rebellenkontrollierten Vororten der Hauptstadt und zu den von Israel besetzten Golanhöhen, auf denen die Al-Nusra-Front bereits Stellungen hält.
Statt sich in Syrien nur auf den IS zu konzentrieren, wie es der Westen seit Sommer 2014 tut, sollte er den Ursprung der Radikalisierung, den brutalen Machterhalt Assads, nicht vernachlässigen. Das gilt auch und gerade für den Süden, wo die gewünschten Ansprechpartner dem MOC seit langem bekannt und in der Lage sind, den Dschihadisten entgegenzutreten.
Dafür müssen sie aber vor allem eines: den Kampf gegen Assad anführen. Nur als Speerspitze des Widerstands wird die FSA den Radikalen das Wasser abgraben. Nur wenn sie auf die militärische Unterstützung der Nusra-Front verzichten kann, wird diese an Bedeutung und Attraktivität verlieren.
Kristin Helberg
© Qantara.de 2015