Willkommen in Abraham/Ibrahim

Fenster mit Aussicht - das Hotel steht direkt neben dem israelischen "Sperrwall".
Das "Walled Off Hotel" in Bethlehem im Westjordanland steht in unmittelbarer Nähe zum israelischen Sperrwall, einer großen Mauer, die Israel Schutz vor Terrorakten verleihen soll. Der britische Künstler Banksy hat das Haus im März 2017 eröffnet und mit zahlreichen eigenen Kunstwerken, die sich mit dem Nahost-Konflikt beschäftigen, bestückt. (Foto: picture alliance/AP Photo/M. Mohammed)

Friedensperspektiven im Nahen Osten. Wer hat’s erfunden? Die Schweizer. Warum sich für eine Lösung des Konflikts in Nahost ein Blick auf die Eidgenossenschaft lohnen könnte.

Essay von Aref Hajjaj

Viele assoziieren den grauenhaften Anschlag der radikalislamischen Hamas vom 7. Oktober und die danach erfolgte harte Reaktion durch Israel in Gaza mit dem Oktober-Krieg vom 1973. Der sogenannte Überraschungseffekt des Überfalls damals wie heute erscheint ihnen stichhaltig genug für diese mutmaßliche Vergleichbarkeit. 

Ich hingegen würde die aktuelle Eskalation eher mit dem Junikrieg 1967 in Beziehung setzen – nicht, weil die Vorgeschichten beider Ereignisse Parallelen haben, nicht, weil sich die Geschehnisse selbst ähneln. Sondern wegen ihrer Folgen: So wie der Krieg von 1967 als deutliche Zäsur in die Geschichtsbücher einging, wird auch der gegenwärtige Konflikt die Dynamik in Nahost verändern. 

Die zionistische Idee wird sich bewegen müssen, was ihren Machtanspruch auf das historische Palästina angeht, aber auch die palästinensische Führung. Sie ist endgültig damit gescheitert, ihre Vorstellungen zur Lösung der Palästinafrage durchzusetzen. 

Mit dem Junikrieg 1967 begann die Ära der Besetzung, Annexion und der exzessiven Besiedlung des Westjordanlands. Dass diese drei Elemente im eklatanten Widerspruch zum Völkerrecht stehen, kann kein Gericht, keine internationale Organisation und auch nicht die Politik infrage stellen. Israels Festhalten an diesen drei Elementen dokumentiert den faktischen Niedergang des internationalen Rechts. 

Historischer Handschlag zwischen Jitzhak Rabin (li.) und Jassir Arafat (re.), doch Frieden herrscht bis heute nicht.
Historischer Handschlag zwischen Jitzhak Rabin (li.) und Jassir Arafat (re.): Der 1993 in Oslo angestoßene Friedensprozess zwischen der PLO und Israel fand infolge der Ermordung von Premier Jitzchak Rabin im Jahr 1995 durch einen rechtsgerichteten jüdischen Studenten schon fast ein Ende, bevor er richtig beginnen konnte, schreibt Aref Hajjaj. (Foto: picture-alliance/CPA Media)

Die gegenwärtig etwa 700 000 jüdischen Siedler, von denen ein guter Teil stramm religiös-nationalistisch ist, fühlen sich in der Westbank "heimisch“. Und ihre Zahl steigt mithilfe der jetzigen, extrem rechten israelischen Regierung weiter stark an.  

Dies führt aber nicht nur die internationale Rechtsordnung ad absurdum, sondern ebenfalls das gebetsmühlenartig vertretene Bekenntnis etwa der USA und Deutschlands zur Zweistaatenlösung. Wobei diese ohnehin nicht viel mehr ist als eine Fata Morgana.  

Der 1993 in Oslo angestoßene Friedensprozess zwischen der PLO und Israel zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts fand infolge der Ermordung von Premier Jitzchak Rabin im Jahr 1995 durch einen rechtsgerichteten jüdischen Studenten schon fast ein Ende, bevor er richtig beginnen konnte. Die fortgesetzte exzessive Siedlungsaktivität und die konzeptlose Schaukelpolitik des früheren PLO-Vorsitzenden Jassir Arafat gaben ihm schließlich den Rest.  

Die Staatlichkeitsfrage ließe sich durchaus lösen

Kann die aktuelle Eskalation, so rekordverdächtig obsessiv und blutig sie ist, dennoch eine Chance bieten, diesen ewigen Konflikt zumindest mittelfristig umfassend und gerecht beizulegen? Die bisherigen autistisch-interimistischen Formen des Konfliktmanagements führten nur zu mehr Verhärtung, Hass und Rachsucht.  

Für die im globalen Norden, insbesondere in den USA und Deutschland, stark agierenden Fürsprecher der israelischen Regierungen war der eingefrorene Konflikt allerdings nur ein taktischer Erfolg. Israel hat am Ende jeder neuen kriegerischen Auseinandersetzung zwar immer militärisch gesiegt, doch waren diese Siege mit dem Makel behaftet, dem Land nie wirklich Frieden und Sicherheit gebracht zu haben. 

Auch die duale palästinensische Führung in Ramallah und Gaza-Stadt ist in strategischer Hinsicht gescheitert. Beide Flügel halten an ihrem jeweiligen territorialen Machtanspruch fest, lassen jeden ernst zu nehmende Einigungsversuch im Keim ersticken und weigern sich letztlich, demokratische Wahlen auszurufen.  

Diese fanden zuletzt 2006 statt. Neuwahlen wären aber für die Überwindung der Spaltung und die Regelung der Staatlichkeitsfrage wegweisend.  

Der Siedlungsaußenposten Givat Arnon nahe der palästinensischen Stadt Nablus im besetzten Westjordanland
Der Siedlungsaußenposten Givat Arnon nahe der palästinensischen Stadt Nablus im besetzten Westjordanland. Rund 700.000 Siedler führen dort das gebetsmühlenartig vertretene Bekenntnis der USA und Deutschlands zur Zweistaatenlösung ad absurdum. (Foto: JAAFAR ASHTIYEH/AFP)

Die Zweistaatenlösung ist schon tot

Die Staatlichkeitsfrage – so utopisch uns das heute erscheint – ließe sich jedoch durchaus lösen, gäbe es auf israelischer Seite einen echten politischen Willen. Dabei gäbe es drei Optionen: Die erste Option besteht im Status quo ante, sie ist aber wegen der Zementierung von Besatzung und fortgesetztem Siedlungsbau und massiver Gewaltanwendung gegen die Bevölkerung durch die ideologisch fanatisierten Siedler inakzeptabel. Diese Option enthält zudem subtile Elemente, die manche mit dem Reizwort einer Apartheid beschreiben. 
 
Die zweite Option wäre die sogenannte Zweistaatenlösung. Lebt sie noch? Eher nicht: Selbst der Ex-US-Präsident Donald Trump, der konzeptionell nicht gerade mit außergewöhnlichen Gaben ausgestattet ist, konstatierte zu Recht, diese Idee sei längst obsolet geworden. 

Allein die Anwesenheit von 700 000 Siedlern im Westjordanland spricht gegen sie. Außenministerin Baerbock mag zwar einen "Siedlungsstopp" fordern, doch der würde bei Weitem nicht ausreichen. Nur eine Räumung der Siedlungen würde eine Lösung im Sinne dieser Option ermöglichen – doch diese ist angesichts der verhärteten ideologischen Fronten in Israel kaum vorstellbar. 

In Ramallah protestieren Palästinenser gegen die israelische Besatzung.
In Ramallah im Westjordanland protestieren Palästinenser gegen die israelische Besatzung. Mit dem Junikrieg 1967 begann die Ära der Besetzung, Annexion und der exzessiven Besiedlung des Westjordanlands. (Foto: Max Zander/DW)

Trotz allem funktioniert das Zusammenleben

Die dritte, noch verbleibende Option besteht in der naiv klingenden, langfristig jedoch umsetzbaren Vision eines gemeinsamen Staates, den man etwa "Abraham/Ibrahim" nennen könnte. Da ich bis zum Ausbruch der Corona-Seuche Israel und Palästina regelmäßig besuchte, weiß ich von einer zwar bescheidenen, nichtsdestotrotz konstruktiven Koexistenz zwischen der jüdischen Mehrheitsgesellschaft Israels und den "palästinensischen Israelis" zu berichten.

In meiner Geburtsstadt Jaffa, mehr noch in Haifa, Akko und Nazareth funktioniert das Zusammenleben verhältnismäßig gut. Im Allgemeinen dominieren jedoch negative Stereotype: So sind die israelischen Juden in der Wahrnehmung der Palästinenser schlicht "repressive Soldaten und Besatzer“, während die Israelis die Palästinenser oft pauschal als "Terroristen“ ansehen.  

Dass sich solche Bilder über Nachbarn halten, neben denen und mit denen zu leben man eben gezwungen ist, weiß ich aus der Schweiz. Weil ich neben Deutschland durch meine Ehefrau auch dort kulturell und gesellschaftlich sozialisiert worden bin, glaube ich aber an die Möglichkeit einer Koexistenz. Das Schweizer Regierungsmodell als Ansatz zur Eindämmung des Israel-Palästina-Konflikts könnte einen Weg zu dieser Form von Koexistenz sein.   

Es fehlt an Kommunikation

Die Angehörigen der vier Kulturräume der Schweiz sind nicht gerade mit einer starken Empathie zueinander verbunden. Begriffe wie der "Rösti-Graben“ (deutsche und französische Schweiz) und der "Polenta-Graben“ (deutsche und italienische Schweiz) belegen diese nicht nur folkloristische Trennung. Dennoch funktioniert das Zusammenleben dort besser als anderswo. Selbstverständlich lässt sich das infernale Spannungsverhältnis zwischen Israelis und Palästinensern nicht mit der Lage in der Eidgenossenschaft vergleichen, für die Kriege immer nur auswärts verortbar sind.  

Anders als im “heiligen Land“ kennt und vertraut man sich in der Schweiz recht gut, während Palästinenser und Israelis sich kaum gegenseitig kennen, geschweige denn vertrauen. Darin liegt eine psychologisch schwer zu überwindende Barriere für einen gemeinsamen Staat. Ohne die Förderung gegenseitiger Kommunikation – gerade an der Basis, etwa durch Bürgerinitiativen – wird die Idee eines gemeinsamen Staates deshalb illusorisch bleiben.   

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Schweiz: vier Kulturen und vier Sprachen

Wenn irgendwann einmal Vertrauen gewachsen ist, könnte das Schweizer Modell durchaus einen Ansatz für die Bildung eines gemeinsamen Staates bieten. Die Größe der Bevölkerung und die Fläche sind vergleichbar, ebenso die immense kulturelle Vielfalt: In beiden Fällen gibt es vielschichtige multikulturelle, multilinguale und multikonfessionelle Elemente. Die kleine Schweiz beherbergt vier Kulturen und vier Sprachen. Im Abraham/Ibrahim-Staat gäbe es zwei Sprachen (Hebräisch und Arabisch), wobei Englisch als Lingua Franca gelten könnte.  

In beiden Fällen besteht, was im Sinne der Konfliktreduktion im Alltag durchaus vorteilhaft sein könnte, meist eine territoriale Trennung der unterschiedlichen Sprach- und Kulturräume: Diese ist in der Schweiz von wenigen Ausnahmen abgesehen (Freiburg, Bern, Vallis) die Regel.  

Auch im Kerngebiet Israels gibt es mit Ausnahme von Haifa, Jaffa, Akko, Nazareth und dem fraglos heikelsten Fall Jerusalem eine vergleichbare territoriale Trennung der Bevölkerungsgruppen. Im sogenannten "Muthallath“ (Dreieck) in Galiläa leben ausschließlich Palästinenser, in Regionen wie Nahariya, Safed oder Netania leben fast ausschließlich israelische Juden. 

Abraham/Ibrahim, das zu gründende Gemeinwesen, sollte wie die Schweiz kein klassischer "Nationalstaat“ sein, sondern eine “Nation des Willens”. Dieser Ansatz klingt kurzfristig utopisch – angesichts der Gräueltaten von Hamas am 7. Oktober und des andauernden brutalen Vorgehens Israels gegen die Zivilbevölkerung von Gaza.  

Doch langfristig erscheint mir der Abraham/Ibrahim-Staat denkbar und machbar, vorausgesetzt, er ginge weder von einer zionistischen Vorherrschaft noch von einer jihadistischen Staatsidee aus. Viele erfolgreiche rechtsstaatliche Systemelemente der Schweiz wie die kantonale Rechtsordnung, der Föderalismus und schließlich die direkte Demokratie ließen sich auf den gemeinsamen demokratischen Staat übertragen. Und noch etwas spricht für diese Idee – es ist fast das wichtigste Argument: Wir haben kaum eine andere Lösung. 

Aref Hajjaj 

© Qantara.de 2024 

Aref Hajjaj wurde im Februar 1943 in Jaffa/Palästina geboren. Nach der Vertreibung 1948 wuchs er in Beirut und Kuwait auf, studierte in Heidelberg Politikwissenschaft, Geschichte und Völkerrecht. Zuletzt erschien von ihm "Heimatlos mit drei Heimaten. Prosatexte über das Andersein" (Kiener-Verlag).