Außerirdische jetzt auch bald in Marokko
Nach dem Erfolg ihres Kurzfilms "Es macht nichts, wenn die Tiere sterben“ (Qu’importe si les bêtes meurent), der auf dem Sundance Festival 2020 mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde, präsentiert Soufia Alaoui im Jahr 2023 ihren ersten Spielfilm. Mit "Animalia“ knüpft sie an ihren Kurzfilm an und ergänzt ihn um eine weitere Geschichte über die verschwimmenden Grenzen zwischen der Welt der Tiere und der Menschen.
Alaouis Werk steht im Kontext einer neuen, experimentellen Strömung des maghrebinischen Kinos, die vor allem von tunesischen und marokkanischen Filmschaffenden vorangetrieben wird. Die Filmemacher widmen sich Genres wie Science-Fiction, Fantasy, Katastrophenfilmen, Superhelden, Action- und Musikfilmen, die im arabischen Kino bislang kaum eine Rolle spielten. Dabei sind auch Mischformen entstanden und es gibt nach wie vor Raum für die traditionellen politischen und sozialen Themen des arabisch-maghrebinischen Kinos.
In der ersten Szene von "Animalia“ folgen wir der Kamera durch das Innere eines luxuriösen Anwesens. Inmitten eines aufwendig im Rokokostil dekorierten Saals sehen wir einen riesigen Kronleuchter vor dem Hintergrund marokkanischer Mosaike und Korantexte. Diese inkohärente Mischung spiegelt nicht nur den Geschmack eines Teils der städtischen marokkanischen Oberschicht wider, sondern steht auch sinnbildlich für die Machart des Films, der verschiedene Techniken und Effekte mischt und sich geografisch weit entfernter Stile bedient.
Die Welt ist außer Kontrolle geraten
Protagonistin Ito stammt aus einfachen ländlichen Verhältnissen und gibt sich alle Mühe, sich in die wohlhabende Familie ihres Mannes einzufügen. Doch nach einem kurzen Blick auf die Klassenunterschiede wird deutlich, ihr Leben wurde von einer Katastrophe eingeholt, über deren Ursache der Film das Publikum im Unklaren lässt. Die hochschwangere Ito findet sich plötzlich allein in der weitläufigen Villa wieder.
Auf dem Weg zu ihrem Mann und seiner Familie kommt sie durch die abgelegene Peripherie und die Wüstengebiete Marokkos. Ito leidet doppelt unter der Einsamkeit, da sie sich weder der wohlhabenden Familie ihres Mannes noch der Welt der extremen Armut zugehörig fühlt.
Alaoui verbindet apokalyptisches Kino mit dem Arthouse-Genre. Die Art der Katastrophe wird nicht enthüllt, wir sehen nur ihre Auswirkungen: Staub- und Nebelschwaden, umherirrende Tierherden, sich hastig entfernende Militärtransporter, Vögel, die Menschen angreifen und religiöse Institutionen, die zum Gebet rufen, um das Unglück abzuwenden.
Die aufkommende Panik bringt verdrängte Ängste ins Bewusstsein: Die Schrecken aus der Zeit der versuchten Militärputsche in Marokko, die Corona-Zeit mit der Angst vor der außer Kontrolle geratenen Natur, die Angst vor einer außerirdischen Invasion, vor Dämonen, vor den Armen. Kurz: Ängste vor dem Unbekannten und dem Anderen überhaupt.
Reichtum und die vorherrschende Religion verblassen im Angesicht der Katastrophe. Gleichzeitig erscheint Itos Situation in mehrfacher Hinsicht prekär, wenn sie sich allein als Frau an Orte begibt, die von rauer Männlichkeit und religiösen Bräuchen und Zeremonien geprägt sind, die ihr aufgezwungen werden.
Ein neuer Blick in Marokkos Filmindustrie
Alaoui vermischt in ihrem Film verschiedene ästhetische Stile und die drei Sprachen Arabisch, Französisch und Amazigh. Dabei entsteht ein komplexes Bild von Kultur, Klassen und Ethnien in der marokkanischen Gesellschaft. Sie zeigt aber auch Wege auf, um Differenzen zu überwinden.
Im zweiten Drittel des Films wird "Animalia“ zum Roadmovie, als Ito sich mit neuen Gefährten auf eine Reise durch die marokkanische Sahara begibt. Es gibt mystische Bezüge und geheimnisvolle, abstrakte Dialoge, in denen spirituelle Erleuchtungen in Halluzinationen übergehen.
Der Höhepunkt ist erreicht, als sie sich Satan nähern und es wagen, ihm ins Gesicht blicken, einem mächtigen übernatürlichen Phänomen, das beängstigend und faszinierend zugleich ist.
Die Landschaften Marokkos bilden seit langem eine beliebte Kulisse für amerikanische Filmproduktionen. In "Animalia“ beleuchtet die Regisseurin Sofia Alaoui die marokkanische Natur aus einer lokalen und persönlichen Perspektive neu, mit besonderem Augenmerk auf dem Atlasgebirge.
Alaoui selbst erklärte dazu, sie habe die marokkanische Natur auf die Leinwand bringen wollen, um ihre magische und exotische Wirkung zu nutzen und den Beweis anzutreten, dass auch in Marokko Außerirdische landen würden. Mit diesem ironischen Kommentar spielt Alaoui auf die Bestrebungen an, das Science-Fiction-Genre im Maghreb heimisch zu machen. Sie hat auf jeden Fall unser Blickfeld geweitet: Außerirdische landen nun nicht mehr nur in Hollywood.
Shady Lewis Botros
© Qantara.de 2023
Aus dem Arabischen übersetzt von Daniel Falk