Die große Last der Frauen
"Wir leben in einem Albtraum und ich hoffe, dass ich daraus erwache", sagt Khawla aus Idlib im Nordwesten Syriens. Ihre Stimme am Telefon offenbart ihre Verzweiflung, immer wieder hält sie inne, unterdrückt ihre Tränen.
Vier Wochen ist es her, dass das verheerende Erdbeben in der Türkei und Syrien mehr als 50.000 Menschen das Leben gekostet hat. Bei jedem Nachbeben, erzählt Khawla, die ihren richtigen Namen nicht nennen möchte, versteinere sie. Der ständige Anblick der flächendeckenden Zerstörung setzt ihr zu: "Ich weiß nicht, was wir noch alles aushalten können", klagt sie. "Der Tod ist hier allgegenwärtig."
Frauen halten im Krieg die Familien zusammen
Das Haus, in dem die 47-Jährige mit ihren Brüdern und ihrem Vater lebt, steht zwar noch, aber die Wasser- und Stromleitungen sind beschädigt, die Wände haben Risse.
"Viele aus unserem Haus sind in eine Notunterkunft geflohen oder haben weiter entfernt ein Zelt aufgeschlagen", berichtet sie. Das komme für sie nicht in Frage. "Wo soll ich denn als Frau hin? Und dann muss ich mich ja auch noch um meine Brüder kümmern."
Zu Hause habe sie wenigstens halbwegs funktionierende Sanitäranlagen.
Vor allem Frauen haben in den vergangenen zwölf Jahren des Syrien-Krieges die Verantwortung für den Zusammenhalt der Familien übernommen. Viele Männer sind getötet, inhaftiert, verstümmelt oder aus dem Land vertrieben worden. 2011 trugen Frauen in nur etwa vier Prozent der syrischen Haushalte die finanzielle Verantwortung. Mittlerweile sind es nach Angaben der Hilfsorganisation CARE etwa 22 Prozent der Familien, in denen Frauen die alleinige Verantwortung tragen.
Khawla hat noch ein bisschen Geld gespart, aber das wird nicht mehr lange reichen, glaubt sie. Dabei ist wirtschaftliche Unabhängigkeit besonders wichtig für ein Leben in Würde, sagt die Politologin Radwa Khaled-Ibrahim, die an der Universität Marburg zu transnationalen feministischen Perspektiven forscht und bei der Organisation Medico International als Referentin für Kritische Nothilfe arbeitet.
Ohne internationale Hilfe geht in Syrien nichts
Der Krieg und die schwierige wirtschaftliche Lage in Syrien haben dazu geführt, dass 90 Prozent der gut vier Millionen Menschen im Nordwesten Syriens auf internationale Hilfe angewiesen sind. Die Zerstörungen durch das Erdbeben kommen jetzt hinzu. "Die Herausforderungen für Frauen sind mannigfaltig", sagt Radwa Khaled-Ibrahim. Dazu würden die Kriegserfahrungen und die Fluchtgeschichte vieler Menschen beitragen, ebenso wie die Autoritäten vor Ort.
Die Mehrheit der Menschen in der Region sind nach Angaben der Vereinten Nationen (UN) Frauen und Kinder, viele von ihnen sind bereits mehrfach innerhalb Syriens geflohen.
Beherrscht wird die Region von syrischen Rebellen und islamistischen Milizen der Gruppe Hayat Tahrir al-Scham (HTS). Für funktionierende Krankenhäuser und Schulen in der Provinz sorgen sie nicht – seit Jahren werden die Institutionen vor allem von Hilfsorganisationen aufrechterhalten. Das Erdbeben hat nicht nur die Bausubstanz der Krankenhäuser beschädigt, sie sind auch mit der hohen Zahl an Verletzten überfordert.
Jetzt müssten viele Programme für Frauen und Mädchen ebenso wie Gesundheitsdienste für Mütter und Schwangere "massiv aufgestockt werden", heißt es beim UN-Bevölkerungsfonds (UNFPA). Die unmittelbaren Auswirkungen des Erdbebens gefährden nach Angaben der UN mindestens 350.000 Schwangere in Syrien und der Türkei.
Mehr Gewalt gegen Frauen
Frauen und Mädchen brauchten jetzt beispielsweise Menstruationsartikel und saubere Toiletten, sagt Huda Khayti, Leiterin des Frauenzentrums in Idlib. Viele von ihnen hätten keinen Zugang mehr zu sauberen Sanitäreinrichtungen, da sie in Zelten, Notunterkünften oder Autos lebten – von Privatsphäre ganz zu schweigen.
Schon vor dem Beben benötigten mehr als sieben Millionen Frauen und Mädchen in ganz Syrien dringend Hilfe im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit. Ebenso wichtig ist Unterstützung gegen geschlechtsspezifische Gewalt. "Mit der Schwere der Krise nimmt die häusliche Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu", so Radwa Khaled-Ibrahim.
Sie befürchtet, dass die Zahl sogenannter Kinderehen steigen wird, besonders, wenn nicht mehr alle Mädchen zur Schule gehen können oder die wirtschaftlichen Sorgen wachsen.
Das sei besonders problematisch, weil die Mädchen im Erdbebengebiet nur schwer zu erreichen seien und Unterstützerinnen so kaum noch Möglichkeiten hätten, sie über reproduktive und sexuelle Gesundheit aufzuklären. "In den Lagern an der Grenze zur Türkei kommt hinzu, dass keine offiziellen Papiere ausgestellt werden, die Ehen werden also nicht dokumentiert. Rechtlich dagegen vorgehen kann man nicht."
Khawla hat nie geheiratet, sie widmet die meiste Zeit ihren Brüdern, dem Haushalt und hat vor dem Erdbeben im Frauenzentrum Idlib anderen Syrerinnen das Friseur-Handwerk beigebracht. Sie hofft, dass das in Zukunft wieder möglich sein und sie anderen Frauen begegnen wird.
Krieg und Krise verbannen Frauen aus dem öffentlichen Raum
In der weitgehend konservativen Gesellschaft unter der Dominanz der HTS, die einst mit Al-Kaida in Verbindung stand, sind Arbeitsplätze für Frauen besonders rar. "Meine Brüder geben mir Kraft", sagt Khawla. Sie hat ein paar Möbel und Dekoartikel für ihre Wohnung gekauft: "Dinge, dir mir etwas bedeuten. Das ist mein einziger Besitz, und ich habe Angst, dass mir ein erneutes Beben alles nimmt."
Radwa Khaled-Ibrahim kann das gut verstehen: "Ein Erdbeben bedeutet für viele eine Retraumatisierung, den Verlust eines Ortes der Zuflucht – so fragil er auch war."
Psychosoziale Unterstützung sei daher besonders wichtig. Gerade in oder nach Krisen würden Frauen häufig ins Private verwiesen und in der Folge in der Öffentlichkeit weniger sichtbar. Bisher hätten sie sich selbstbestimmte Räume erkämpft. "Die müssen geschützt und ausgebaut – und nicht als Kollateralschaden der Katastrophe behandelt werden." Das Frauenzentrum von Huda Khayti, das Medico International unterstützt, sei daher ein wichtiger Ort.
Dass die internationale Hilfe nur tröpfchenweise im Erdbebengebiet im Nordwesten Syriens ankommt, sorgt für Verzweiflung bei den Menschen. Und die Hilfe deckt den Bedarf bei weitem nicht. Die EU hat eine Luftbrücke nach Damaskus eingerichtet, also in den Herrschaftsbereich von Machthaber Baschar al-Assad. Im verwüsteten Nordwesten Syriens werden aber wohl keine Hilfsgüter ankommen, denn daran hat Assad kein Interesse. Das Regime und sein Verbündeter Russland bombardieren den Nordwesten des Landes weiterhin.
"Der Krieg ist berechenbarer als ein Erdbeben, so komisch das klingt", sagt Khawla. Sie will die Hoffnung nicht aufgeben, aber es fällt ihr schwer. Die Welt habe Syrien vergessen. "Scheinbar ist mir ein Leben in Freiheit und Leichtigkeit verwehrt."
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