"Nieder mit allen Mubaraks!"
"Wenn Mubarak unschuldig ist, wer er ist dann für den Tod der Demonstranten verantwortlich?", steht auf einem Schild, das ein junger Demonstrant in der Nähe des Tahrir-Platzes hochhält, während zahlreiche Autofahrer ihm zustimmend anhupen. Wenige Stunden zuvor hatte ein Gericht in Kairo das Verfahren gegen den Ex-Diktator eingestellt, in dem dieser angeklagt war, für Tötung von hunderten Demonstranten während des Aufstandes gegen Mubarak im Frühjahr 2011 mitverantwortlich zu sein.
Sein Innenminister Habib El-Adli, sowie sechs frühere hochrangige Sicherheitschefs wurden von derselben Anklage sogar freigesprochen. Im gleichen Verfahren hatte das Gericht Mubarak und dessen Söhne auch von jeglichen Korruptionsvorwürfen freigesprochen.
Skandalöser Freispruch
Es war vor allem die Einstellung des Verfahrens gegen Mubarak und der Freispruch seines Innenministers sowie seiner Sicherheitschefs, was die Ägypter dazu veranlasste, auf die Straßen zu gehen und zu protestieren. Von vielen, insbesondere von den Angehörigen der damals umgekommenen Demonstranten, wird die Einstellung des Prozesses gegen den ehemaligen Langzeitdiktator als ein komplettes Reinwaschen des alten Regimes durch die Justiz empfunden.
Es ist der Gipfel des Eisberges, nachdem bereits zuvor 170 Polizeioffiziere, die wegen der Tötung von Demonstranten vor Gericht standen, entweder mangels Beweise oder weil sie in Selbstverteidigung gehandelt haben sollen, freigesprochen wurden. In einigen wenigen Fällen wurde eine Strafe auf Bewährung ausgesetzt.
Vor dem Gericht brach nach dem Urteilsspruch ein junger Mann zusammen, der zuvor ein weißes Leichentuch in der Hand hielt – symbolisch für seinen Bruder, der während des Aufstandes gegen Mubarak umkam. "Mein Bruder wird sein Recht bekommen", hatte er noch vor dem Urteil zuversichtlich erklärt. Nach dem Urteilsspruch warf er sich schreiend auf die Straße. "Heute ist mein Bruder ein zweites Mal ermordet worden!", rief er vollkommen aufgebracht, während er sich neben dem Leichentuch auf dem Asphalt hin und her wälzte.
Der späte Triumph des Pharaos
Diskutiert wird nun, ob Mubarak schon bald wieder ein freier Mann sein wird. Derzeit hat er noch eine dreijährige Strafe in einem anderen Korruptionsfall abzusitzen, die er allerdings weitgehend nicht im Gefängnis, sondern imKrankenhaus verbracht hat. Das Urteil der dreijährigen Strafe war im Mai dieses Jahres gefällt worden, allerdings sitzt Mubarak seit Mai 2011 in Haft. Jetzt geht es darum, ob die frühere Haftzeit angerechnet wird. Dann müsste Mubaraks Zeit als Häftling infolge des Korruptionsurteils im Mai 2014 beendet gewesen sein.
Im wichtigsten Fall, dem der Beihilfe zum Mord von Demonstranten während des Aufstandes, wurde Mubarak nicht freigesprochen. Der Richter hat das Verfahren aus technischen Gründen eingestellt. In dem Verfahren ging es darum, wer für den Tod von hunderten Demonstranten während des Aufstandes gegen Mubarak im Januar und Februar 2011 verantwortlich war. Wer hat damals den Schießbefehl gegeben, wie setzte sich die Kommandokette zusammen?
Zunächst waren nur der Innenminister und sein Sicherheitschef angeklagt. Mubarak wurde aufgrund des öffentlichen Drucks als Angeklagter dem nachträglich Verfahren zugeordnet, nachdem der Prozess bereits zwei Monate im Gang war. Das hat der Richter nun als Verfahrensfehler interpretiert und damit den Prozess gegen Mubarak eingestellt. Es war für den Richter, der juristisch eleganteste Weg, nicht über die Schuld oder Unschuld Mubaraks richten zu müssen.
Mögliche Neuverhandlung
Das Ganze wird mit ziemlicher Sicherheit nun in eine letzte juristische Runde gehen. Die Staatsanwaltschaft wird das Kassationsgericht anrufen, das entscheiden muss, ob es im Verlauf des Verfahrens Fehler gab. Das Kassationsgericht wird zunächst dabei nicht die Beweislage neu bewerten. Es kann das Urteil entweder ratifizieren - und damit wäre das Verfahren gegen Mubarak abgeschlossen - oder auch wegen Verfahrensfehlern eine Neuverhandlung beschließen. Das wäre dann ein letzter Prozess, der vom Kassationsgericht selbst verhandelt würde, das dann wie ein Strafgericht agiert und den Fall völlig neu aufrollt.
Nach Ansicht des ägyptischen Menschenrechtlers Hossam Bahgat gilt das Kassationsgericht als die "unabhängigste und professionellste" Kammer des Landes, da die dortigen Richter ausschließlich von ihren Kollegen bestellt werden. Auch wenn also das Urteil am Wochenende ein großer Aufreger in Ägypten war, so ist die "Mubarak-Gerichtssaga" nicht beendet und geht wahrscheinlich in eine noch dramatischere Runde.
Nachdem der 86jährige Mubarak nach dem Urteil wieder zurück ins Krankenhaus gebracht wurde, winkte er kurz einer kleinen Gruppe von Anhängern vom Balkon zu. Später wurde er per Telefon in eine Pro-Regierung Fernseh-Talkshow zugeschaltet, in der er noch einmal räsonierte, dass er sich keinerlei Vergehen bewusst sei.
Daraufhin zirkulierten auf Facebook und Twitter in Ägypten Fotos der über 800 umgekommenen Demonstranten während des Aufstandes, um "dem Gedächtnis Mubaraks auf die Sprünge zu helfen". In einem Tweet heißt es zynisch: "Wenn niemand für den Tod der Demonstranten verantwortlich ist, dann haben sie wohl alle Selbstmord begangen".
Beweis für die gestohlene Revolution
Noch am Samstag Abend (29.11.2014) versammelte sich in unmittelbarer Nähe des Tahrir-Platzes eine Gruppe von mehreren tausend Demonstranten zu der größten Demonstration, seit Präsident Abdel Fattah al-Sisi das Präsidentenamt übernommen hat und das Demonstrationsrecht verschärfen ließ. Zu den Protestlern auf dem Tahrir zählten vorwiegend junge Menschen verschiedener politischer Couleur.
"Das Urteil ist ein weiterer Beweis, dass sie unsere Revolution gestohlen haben", empört sich der dort anwesende Ingenieur-Student Mustafa, der aus Angst vor Strafverfolgung wegen Teilnahme an einer Demonstration nur seinen Vornamen nennt. Und sein Studienkollege Ahmad kommt zu dem Schluss: "Es geht hierbei nicht nur um Mubarak, sondern um 60 Jahre Militärherrschaft! All jene, die dieser Herrschaft Tribut und Loyalität gezollt haben, werden rehabilitiert." Heute sei ihre Wut über das Urteil größer, als ihre Angst vor den Sicherheitskräften, so die Meinung der beiden Demonstranten. Deswegen seien sie zum Tahrir gekommen.
Im Verlauf des Protestes veränderten sich die Sprechchöre der Demonstranten, die zunächst die Einstellung des Verfahrens gegen Mubarak anprangerten, sich dann aber schon bald gegen den neuen Machthaber und ehemaligen Militärchef Abdelfattah al-Sisi richteten. "Das Volk will den Sturz des Regime!", riefen sie – ein Echo des einstigen Aufstandes gegen Mubarak am gleichen Ort vor fast vier Jahren.
Mit Schrot und Knüppeln gegen Demonstranten
Es dauerte nicht lange, bis die Polizei die Demonstration gezielt mit Tränengas, Wasserwerfern und Schrotmunition auflöste. Dutzende Demonstranten wurden von Schlägertrupps und Polizisten in den Seitenstraßen festgenommen – ein Vorgehen, das an die Mubarak-Ära erinnerte. Die Schlägertrupps zogen allerdings nicht mehr nur mit Macheten wie damals durch die Straßen. Zu sehen waren sie dieses Mal auch auf Motorrädern mit Beifahrern, die ihre Gewehre bereit hielten. Zwei Demonstranten kamen bei den Zusammenstößen ums Leben.
Am darauffolgenden Sonntag (30.11.2014) gingen die Proteste weiter, an der Universität Kairo, in Alexandria, aber auch in einigen Nildeltastädten. Doch diese Proteste an den Universitäten sind nicht neu, sie beherrschen bereits seit Monaten den Alltag in Ägypten. Seit dem Urteil stehen die Studenten jedoch im Ruf, ihren Protest der vergangenen vier Jahre gegen Hosni Mubarak mit dem neuen Machthaber Abdelfattah al-Sisi zu verbinden: "Nieder mit allen Mubaraks!", lautet ihre Losung.
Karim El-Gawhary
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