Anthroposophie in der Wüste

Vor fast zwanzig Jahren gründete Ibrahim Abouleish eine Farm in der Nähe von Kairo, auf der er den Ägyptern die Lehre Rudolf Steiners nahe bringen wollte. Mittlerweile ist daraus ein mittelständisches Unternehmen geworden. Stefanie Gsell hat den Betrieb besucht.

Vor fast zwanzig Jahren gründete Ibrahim Abouleish Sekem, eine Farm in der Nähe von Kairo, auf der er den Ägyptern die anthroposophische Lehre Rudolf Steiners nahe bringen wollte. Mittlerweile ist daraus ein mittelständisches Unternehmen geworden. Stefanie Gsell hat den biodynamisch wirtschaftenden Betrieb besucht.

Sekem-Arbeiterinnen verpacken Kamillentee; Foto: www.sekem.com
Die Teilnahme an Alphabetisierungskursen ist Pflicht für die Mitarbeiter von Sekem, im Gegenzug gibt es für alle eine Altersvorsorge

​​Der Mitarbeiterbus nähert sich dem Tor von Sekem, dem Reich des Dr. Ibrahim Abouleish. Die 70 Hektar große, biodynamisch wirtschaftende Farm liegt 45 km nordöstlich von Kairo in der ägyptischen Wüste. Nachdem mein freundlicher ägyptischer Sitznachbar, ein Buchhalter, erklärt hat, ich sei eine deutsche Journalistin und würde von Yvonne erwartet, lassen die Sicherheitskräfte uns passieren.

Yvonne Floride, Mitte 40, groß, schlank, ernst, vertagt das Begrüßungsgeplänkel auf "gleich", da wir sonst den Schulkreis verpassen. Wie alle Arbeiter der Fabrikanlagen von Sekem versammeln sich auch die gut 300 Schüler, vom Kindergartenkind bis zum Abiturient, jeden Morgen mit ihren Lehrern auf dem kleinen Sekemer Schulhof zu Morgengebet und Fahnengruß.

Die Schüler stammen aus Bauernfamilien oder den Familien der zweitausend Sekem-Mitarbeiter, die in der Nähe der Farm wohnen. Wir stehen in drei konzentrischen Kreisen, und einige der Schüler und Lehrer berichten, was sie gerade lernen.

Der Lehrplan des ägyptischen Schulministeriums wird strikt eingehalten, Unterrichtsfächer wie Eurhythmie, bildende Kunst und Deutsch kommen ergänzend hinzu.

Anthroposophie und Islam

Dr. Abouleish hat während seines Graduiertenstudiums der Pharmakologie in Graz die Steinersche Lehre schätzen gelernt und 1977 Sekem gegründet, um die Prinzipien der Anthroposophie, zu denen auch der biodynamische Landbau zählt, seinen Landsleuten nahe zu bringen.

Ibrahim Abouleish; Foto: AP
Nur auf Deutsch könne man richtig denken, meint Dr. Ibrahim Abouleish

​​Während Yvonne mich in einem Rundgang durch die Produktionseinheiten der Farm führt, versuche ich etwas über die (Un-)Vereinbarkeit von Anthroposophie und Islam zu erfahren. Muss eine anthroposophische Haltung bei ägyptischen Muslimen nicht auf vehemente Widerstände stoßen?

Yvonne scheint diese Fragen zu kennen. Ohne näher darauf einzugehen, erklärt sie, worauf es Dr. Abouleish und den Seinen, seiner Frau Gudrun, seinem Sohn Helmy, dessen Frau Constanze und den im Schnitt zwanzig europäischen Mitarbeitern, die auf der Farm leben, ankommt: auf wirtschaftlichen Erfolg, der weder zu Lasten der Umwelt noch der Arbeitskräfte geht, der im Gegenteil in die Entwicklung menschlicher und natürlicher Ressourcen reinvestiert wird.

Beeindruckende Bilanz

Yvonne und ihr Mann kamen vor fast zwanzig Jahren mit zwei kleinen Kindern aus Deutschland in die ägyptische Wüste, weil sie ihr Leben unerfüllt fanden. In Sekem habe sie sofort gefühlt, dies sei ihr Schicksal.

Sie liebt die Gegenwärtigkeit und Leichtigkeit der Ägypter, deren "Suche nach Nähe". Seitdem kümmert sich die Sozialpädagogin darum, dass der Laden läuft. Ihre vorderste Aufgabe neben vielen ist das exzellente Erscheinungsbild der Farm.

Was Sekem bisher geleitet hat, ist beeindruckend. Wie die gesamte Initiative – Sekem bedeutet "Kraft der Sonne" – tragen fast alle Unternehmenszweige altägyptische Namen.

Die Geräteausstattung und Reinlichkeit der Produktionsanlagen entspricht westlichem Standard, alle Arbeitsvorgänge versieht das Personal heiter und höchst effizient. Hator vertreibt frisches Obst und Gemüse. Atos dient Herstellung und Vertrieb von Phytopharmaka. Isis, bereits 1984 gegründet zur Vermarktung von Kräutertees, vertreibt inzwischen auch andere Produkte wie Speiseöle oder Trockenfrüchte.

"Isis" heißen auch die drei Shops, die die Sekem-Produkte in Kairo verkaufen. Allmählich wächst auch in Ägypten die Nachfrage nach unbehandelten Lebensmitteln, nach wie vor stammen jedoch die Haupteinnahmen aus dem Export. 2003 erwirtschaftete die Sekem-Initiative einen Umsatz von 55 Millionen ägyptischer Pfund, das entspricht 8 Millionen Euro.

Pflichtveranstaltungen für die Mitarbeiter

Größtenteils werden die Kräuter und Lebensmittel von 400 ägyptischen Partnerfarmen angebaut. Sie werden von der Sekemer Kooperative Libra betreut, die Interessierte über die Grundsätze biologisch-dynamischen Landbaus aufklärt und mit den Betrieben wirtschaftet, sobald die Umstellung erfolgt ist.

Arbeiter auf einem Sekem-Feld; Foto: www.sekem.com
Sekem produziert sowohl für den ägyptischen wie für den internationalen Markt

​​Die Löhne der Mitarbeiter entsprechen dem ägyptischen Standard. Während der Arbeitszeit werden eurhythmische Gymnastikübungen gemacht, die Teilnahme an Alphabetisierungskursen sowie kulturellen Bildungsveranstaltungen und kreativen Workshops ist Pflicht. Auch Vorkehrungen für die Altersabsicherung der Mitarbeiter werden getroffen.

Vorbei am Amphitheater, das 2000 Zuschauerplätze für Theateraufführungen oder Generalversammlungen hat, geht es zum Ausbildungszentrum, einem Kohl-Mubarak-Projekt. Junge Ägypter werden hier in sechs Bereichen ausgebildet: Handel, Textil, Holzverarbeitung, Agrartechnik, Elektrotechnik und Mechanik.

Yvonne betont, dass in Sekem die "Vernetzung" aller Aktivitäten im Vordergrund steht. Wir besuchen die Textil-Klasse, die auch die Arbeitskleidung der Mitarbeiter fertigt und gerade mit der Produktion von Waschbärpuppen, die mit einer neuen Conytex-Kollektion ausgeliefert werden, beschäftigt ist.

Philosophie und Religion

Nun ist es Zeit für mein Treffen mit dem Gründer von Sekem. Yvonne wartet mit mir in seinem großen, Licht durchfluteten Studierzimmer voll deutscher Bücher. Nur auf Deutsch könne man richtig denken, erläutert Yvonne den Standpunkt ihres Chefs.

Endlich betritt ein zierlicher Ägypter mit leuchtenden Augen, dem man weder die fast 70 Lebensjahre noch den überstandenen Herzinfarkt ansieht, den Raum.

Auf die Anthroposophie, so erklärt Dr. Abouleish, kam er durch Rudolph Steiners "Philosophie der Freiheit", ein schwer zu verstehendes Werk, das er wieder und wieder lese, um stets neue Erkenntnisse daraus zu gewinnen. Keineswegs stünde die Anthroposophie im Widerspruch zu seinem Glauben. Schließlich sei jene Philosophie und dieser Religion.

Im Gegenteil habe er den Islam erst durch die Anthroposophie richtig verstanden, vieles im Koran decke sich mit der Steinerschen Weltanschauung. Die steht für ihn aber nicht im Vordergrund, wichtig ist, gute Anstöße zu nutzen und etwas daraus zu machen!

Wer meint, Muslime würden in Sekem vom rechten Glauben abgebracht, wird eingeladen, mit den Mitarbeitern zu sprechen und sich vom Gegenteil zu überzeugen. Bis jetzt habe das jedes Mal gewirkt.

Die Zeit ist knapp, und so fahren wir im cremefarbenen Mercedes der S-Klasse zur donnerstags stattfindenden Schülergeneralversammlung. Sie wird eingeleitet von ergreifend schöner Koranrezitation aus der Sura Ibrahim, gefolgt von einem Zigeunerständchen von Wilhelm Topp, das Sekemer Streicher und Flötisten zum Besten geben.

Dann werden Fragen gestellt; etwa zum Problem der Arbeitslosigkeit oder den Vorteilen ökologischer Landwirtschaft. Zum Schluss gibt Dr. Abouleish jedem Schüler die Hand, wobei dieser ihm seinen Namen nennt. Ibrahim Abouleish kennt die Namen aller Schüler und Sekem-Mitarbeiter!

Stefanie Gsell

© Qantara.de 2005

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Website von Sekem (engl.)