Idlib: Furcht vor dem Verfall der türkischen Lira
Die Verantwortung auf den Schultern von Khadija aus Idlib-Stadt wiegt schwer: Sie ist die Hauptverdienerin im Haushalt und versorgt ihre Zwillingsbrüder, die mit dem Down-Syndrom zur Welt gekommen sind. "Ich arbeite viel", sagt sie. "Früher konnte mein Vater uns finanziell alleine versorgen. Das geht heute nicht mehr. Alles ist teurer geworden. Sein Gehalt reicht heute nur noch für die Lebensmittel aus, die wir brauchen."
Khadija ist 46 Jahre alt. Sie lebt mit ihren 40-jährigen Brüdern, dem Vater und seiner neuen Frau zusammen. Geheiratet hat sie nie: "Als meine Mutter erkrankte und dann vor 16 Jahren starb, war für alle in der Familie klar, dass ich die Verantwortung für meine Brüder übernehmen würde", erzählt sie in einer Sprachnachricht. "Ich bin mittlerweile mehr als nur ihre Schwester, aber ich bin gerne für sie da", sagt sie. Sie kocht ihnen ihr Lieblingsessen, kauft ihnen Kleidung und verbringt so viel Zeit wie möglich mit ihnen.
Einführung der türkischen Lira
Doch Khadija umsorgt nicht nur ihre Brüder - sie geht auch zwei bezahlten Jobs nach: Zum einen arbeitet sie in einem Friseursalon. "Dort werde ich am Umsatz beteiligt", sagt sie. Zum anderen bringt sie anderen Frauen im Idlib-Frauenzentrum das Friseur-Handwerk bei. "Diese Arbeit erfüllt mich. Aber natürlich muss ich auch mehr arbeiten, um unsere wirtschaftliche Situation zu verbessern. Denn alles ist teuer geworden."
Die Provinz Idlib im Nordwesten Syriens, nahe der türkischen Grenze, ist die letzte von syrischen Rebellen und Islamisten gehaltene Region. Sie steht überwiegend unter der Kontrolle islamistischer Milizen der Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die wiederum aus der Al-Nusra-Front hervorgegangen ist.
Im Herbst 2019 kam es zu einem drastischen Währungsverfall. Die Gründe dafür sind vielfältig: Die durch Jahre des Krieges angeschlagene Wirtschaft konnte sich nicht erholen, die Sanktionen gegen das Assad-Regime und diverse Unternehmen machen das Leben teurer, aber auch die dramatische Wirtschaftskrise im benachbarten Libanon hat Auswirkungen auf Syrien.
Schließlich führten die Islamisten im Sommer 2020 statt des syrischen Pfunds die türkische Lira als Zahlungsmittel in der Provinz Idlib ein. Die lokalen De-facto-Behörden hatten sich durch den Währungswechsel erhofft, die Region vor einem wirtschaftlichen Kollaps schützen zu können. Die Ankündigung erfolgte damals kurz bevor neue US-Sanktionen gegen die syrische Regierung in Kraft traten, wodurch die sich im freien Fall befindliche syrische Währung noch stärker unter Druck geriet.
Abwertung der türkischen Lira und teurere Preise
Eineinhalb Jahre sei die wirtschaftliche Lage in Idlib relativ stabil geblieben, sagt Syrien-Experte Zaki Mehchy von der britischen Denkfabrik Chatham House in London. "Doch mittlerweile befindet sich auch die türkische Lira im freien Fall, und das hat Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der Bevölkerung von Idlib", sagt er.
Das kann Khadija nur bestätigen. Unterschiedlichen Schätzungen zufolge leben etwa vier Millionen Menschen in der Provinz Idlib, über eine Million von ihnen in Flüchtlingslagern. Viele sind schon mehrfach innerhalb Syriens geflohen. Etwa 75 Prozent der Bewohner der Provinz Idlib sind laut Human Rights Watch auf humanitäre Hilfe angewiesen. Dazu kommen die Corona-Pandemie und die ständigen Bombardements der südlichen Gebiete der Region durch das Assad-Regime und seine Unterstützer. "Wir müssen hier viel aushalten, das Leben ist wirklich nicht leicht", sagt Khadija.
Als 2020 die türkische Lira als Zahlungsmittel eingeführt wurde, lag der Wechselkurs bei 6,8 Lira für einen Dollar. Mittlerweile liegt der Dollar bei zwölf Lira (Stand 26.11.). "Als die Lira so stark an Wert verloren hat, haben die Geschäfte und die Händler sofort die Preise angehoben", erzählt Khadija. Es gebe Menschen, die gerade mal 100 Lira in der Woche verdienen würden, erzählt sie. "Wenn man 157 Lira für eine Gasflasche zum Kochen bezahlen muss, wie soll man sich das leisten können?", fragt sie.
Waren kommen aus der Türkei und vom Schmuggel
Watad Petroleum, eine mit den Machthabenden in Idlib verbundene Ölgesellschaft, hat die Treibstoffpreise erhöht, als der Wert der türkischen Lira sank. Wer hinter Watad steckt, ist nicht bekannt. Aber sie beziehen Erdöl für den Nordwesten Syriens überwiegend aus der Türkei. Überhaupt: Fast alle Waren, die in der Provinz gehandelt werden, kommen aus der Türkei. Sie kommen über den Grenzübergang Bab-el-Hawa nach Syrien. "Auch wir im Friseur-Salon nutzen nur Produkte aus der Türkei. Aber natürlich sind auch noch Waren aus Syrien im Umlauf", berichtet Khadija.
Idlib verfüge leider über keine eigenen finanziellen Ressourcen, sagt Zaki Mehchy. In der Region würde beispielsweise Weizen angebaut, aber der Brotbedarf der Region könne damit nicht abgedeckt werden. "Deshalb hängt die Versorgung der Bevölkerung in Idlib stark von Waren ab, die aus der Türkei, aus den vom Regime kontrollierten Gebieten oder aus den kurdischen Gebieten kommen."
Bei der Ware, die innerhalb Syriens nach Idlib gelangt, handele es sich um Schmugglerware. Die ist häufig teurer, weil die internationalen Sanktionen dazu beigetragen haben, dass die Preise in denen vom Regime kontrollierten Gebieten für alltägliche Waren gestiegen sind. Schmuggler würden dies dann für sich nutzen, um hohe Gewinnspannen zu erzielen. "Und das müssen letztendlich die Endverbraucher in Idlib bezahlen."
Eine weitere Katastrophe ist im Anmarsch
Khadija und ihre Familie stammen aus Idlib-Stadt. Sie ist dankbar dafür, dass sie ein Dach über dem Kopf haben. Auch wenn sie finanziell nur gerade so über die Runden kommen. "Anderen Leuten geht es hier aber viel schlechter. Sie leben in Zelten und sind auf finanzielle Hilfen angewiesen", sagt sie. Till Küster ist Leiter der Abteilung der Kooperationen bei der Organisation Medico International. Er sagt, es drohe eine Katastrophe - vor allem kombiniert mit dem Wintereinbruch und der Corona-Situation. "Die meisten Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen bekommen ihre Tageslöhne in türkische Lira ausgezahlt und leben auf dieser Basis." Wenn es so weitergehe, könnten die Menschen sich bald kaum noch Brot leisten. Derzeit könne man nur durch Lebensmittelspenden oder Geld helfen.
Für Khadija kommt es dennoch nicht in Frage, Idlib zu verlassen. Eine Flucht mit ihren beiden Brüdern wäre sowieso unmöglich. "Wo sollte ich mit ihnen hin?", fragt sie. "Außerdem finde ich es wichtig, den Frauen hier eine wirtschaftliche Perspektive zu eröffnen, indem ich ihnen mein Handwerk beibringe", sagt sie. "Ich will, dass sie sich selber versorgen können."
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