Warum ausgerechnet Suzy?

"سوزي الأردنية" في بودكاست مع البولوجر محمد عبدالعاطي قبل القبض عليهما. (Photo: Screenshot/Ma3 Kamel A7terami/YouTube)
Die Hölle des Ruhms: „Suzy, die Jordanierin“, hier im Juni 2025 kurz vor ihrer Festnahme (Foto: Screenshot/Ma3 Kamel A7terami/YouTube)

Ägypten geht gegen Influencerinnen vor. Zuletzt wurde die 18-jährige „Suzy, die Jordanierin“ festgenommen. Der rasante Erfolg junger Frauen führt zu Klassenneid und fordert den vermeintlich „moralischen Staat” heraus.

Von Ahmed El-Gammal

Anfang August brach die 18-jährige Mariam Ayman, bekannt als „Suzy, die Jordanierin“ (Suzy El Ordoneya), aus ihrer Routine aus. In einem Live-Video auf TikTok, das keine zehn Minuten dauerte, war ihr Gesicht blass, ihre Augen aufgerissen, ihre Hände zitterten.

Sie werde zum Sündenbock gemacht, stellvertretend für Menschen, die auf unethische Weise von sozialen Medien profitieren, erklärte Suzy, die zu den berühmtesten Influencerinnen in Ägypten und im arabischen Raum zählt.  

„Ich bin ein Mädchen, kein Junge, und ich soll ins Gefängnis. Sie können sich nicht vorstellen, was es für mich und meine Eltern bedeuten würde, wenn ich für etwas ins Gefängnis käme, das meinen Ruf schädigen und meine Zukunft zerstören könnte.”

Wenige Stunden später stürmten bewaffnete Kräfte ihr Haus und nahmen sie in Gewahrsam, wo sie sich bis heute befindet. Gemeinsam mit anderen muss sie sich nun wegen ihres plötzlichen Reichtums und sozialen Aufstiegs vor Gericht verantworten. Der Fall, bekannt als „Razzia gegen TikTok-Content-Creators“, dürfte für immer in Erinnerung bleiben.

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Schon vor fünf Jahren waren die Influencerinnen Haneen Hossam und Mawada El-Adham wohl aus ähnlichen Gründen derselben Behandlung ausgesetzt. Von Bewaffneten wurden sie nachts aus ihren Häusern geholt und unter verschiedenen Anschuldigungen festgenommen

Die schockierendsten Vorwürfe damals lauteten Menschenhandel, Anstiftung zur indirekten Prostitution, Verbreitung moralisch obszöner Inhalte und Beitrag zur Verderbnis der menschlichen Natur.

Zwei Jahre später gerieten Comedy-Content-Ersteller ins Visier. Fünf junge Männer wurden wegen eines Videos verhaftet, in dem sie satirisch darstellten, wie sie einen Gefangenen in einem ägyptischen Gefängnis besuchen. 

Der bekannteste Fall aber bleibt die ägyptisch-italienische Tänzerin Souad Hafez, bekannt als „Linda Martino“, die im Juni dieses Jahres am Flughafen in Kairo unter fast identischen Vorwürfen wie die anderen festgenommen wurde.

„Nationale Moral“ als Instrument der Unterdrückung

Die Gesichter und Orte sowie der rechtliche Kontext und die sprachlichen Details mögen sich unterscheiden, aber letztendlich lösen immer eifrige öffentliche Verurteilungen dehnbare Anschuldigungen und Strafverfolgungen aus, alles zur vehementen Verteidigung einer sogenannten „nationalen Moral“. Für die Betroffenen kann eine Handykamera somit das Tor zur Hölle öffnen. Sie macht sie zwar sichtbar und vielleicht auch reich – aber ohne Erlaubnis des Staates.

Im Laufe der Menschheitsgeschichte haben Regime – insbesondere „stratokratische“ (militärische) Regierungen – immer wieder versucht, Narrative zu schaffen, die sie legitimieren und es ihnen ermöglichen, nach Belieben einzugreifen, um die gesellschaftliche Klassenhierarchie zu kontrollieren. 

Schon Platons „Politeia“ mit seiner Vision einer sokratischen Idealstadt kann als erster Versuch verstanden werden, eine solche Hierarchie zu erklären. Der Staat steht über allen, überwacht jedes Individuum und bestimmt den Platz, den es einnehmen soll.

In der arabischen Welt – insbesondere in Ägypten – haben sowohl fundamentalistische als auch moderate Regime versucht, offizielle Moralkodizes zu formulieren, die weniger politisch, sondern stärker sozial orientiert sind und die Moral in das Gewand von Religion, Recht und Tradition kleiden.

Hier entspricht Moral nicht einfach einer Reihe von Verhaltensregeln, sondern ist ein autoritäres Instrument zur Unterwerfung der Gesellschaft: Medien und Internet werden zensiert, individuelle Gewohnheiten überwacht. Gehorsam und Unterwerfung werden zu nationalen Tugenden erklärt. Loyalität wird an Konformität gemessen, und es werden Grenzen gezogen zwischen Freiheit und Verbotenem, zwischen der Ausübung von Rechten und der Verletzung von Tugenden.

Strafe für Erfolg

„Suzy, die Jordanierin“ (das Pseudonym wählte Mariam Ibrahim, um den Traum ihrer Familie auszudrücken, nach Jordanien auszuwandern), stach hervor mit gereimten Straßenimprovisationen und ihrer zerbrechlichen Präsenz vor der Kamera. 

Wie Hanin Hossam, Mawada al-Adham und andere Influencerinnen war sie innerhalb weniger Jahre von einer sozialen Schicht in eine andere aufgestiegen – nur um heute beschuldigt zu werden, gegen „die Werte und Prinzipien der ägyptischen Familie” verstoßen zu haben, ein Anklagepunkt, der seit der Verabschiedung des Gesetzes zur Cyberkriminalität im Jahr 2018 rechtlich umstritten ist.

Suzy ist nicht nur ein Opfer der Autorität des Staates, sondern auch der Gesellschaft. Denn diese sah in dem plötzlichen Aufstieg der Influencerin ein Spiegelbild ihrer eigenen Unzulänglichkeit; Suzys Erfolg wertete sie als Angriff auf ihre kollektive Würde.

Einige fragen sich: Woher ist diese junge Frau gekommen, die keine angesehene Ausbildung genossen hat und nicht auf eine Art und Weise spricht, die es ihr ermöglicht, sich als Mädchen aus „Egypt“ auszugeben (englisch ausgesprochen, was in der wohlhabenden Klasse populär geworden ist)? Was gibt ihr das Recht, so schnell die soziale Leiter zu erklimmen?

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Die soziale Wut, gemischt mit Klassenneid, ist das populäre Gesicht der offiziellen Moral des Staates. Sogar die ägyptische Schauspielervereinigung warnte ihre Mitglieder, mit Suzy zusammenzuarbeiten, offenbar unter Druck der Gesellschaft und des Staates. 

Es ist, als belagere die staatliche Autorität Suzys Körper und die gesellschaftliche ihre Seele, sodass Suzy gefangen ist – verletzlich und doch irgendwie in der Lage, ein ganzes System falscher Moral zu entlarven.

Instrumentalisierung der Moral

Der Staat verfolgt diese jungen Frauen nicht, um bestimmte Werte zu schützen, sondern um die Grenze zwischen Erlaubtem und Verbotenem neu zu ziehen. Laut ägyptischen Menschenrechtsorganisationen spiegeln die Gerichtsprozesse die Feindseligkeit der ägyptischen Behörden gegenüber der freien Nutzung des Internets wider, alles unter dem Vorwand des „Schutzes der Familienwerte”.

Neu ist diese Instrumentalisierung der Moral nicht. Auch der Faschismus, etwa im Nationalsozialismus, präsentierte seine Projekte als „moralisch rein”. Schon immer haben totalitäre Regime ihre repressive Politik unter dem Deckmantel von Tugendhaftigkeit oder dem Schutz des öffentlichen Anstands versteckt. 

In der arabischen Welt wurden Kampagnen gegen TikTok-Stars genutzt, um von Korruption, Arbeitslosigkeit und Unterdrückung abzulenken, ruft doch die Diffamierung einer Tänzerin schneller Sympathie hervor als die Auseinandersetzung mit wirklichen Problemen.

Seit der Gründung gilt TikTok nicht nur als Plattform für Unterhaltung, sondern als Möglichkeit, aus dem Nichts zum Millionär zu werden. Die 16-jährige US-Amerikanerin Charli D'Amelio wurde mit einem Vermögen von mehreren Millionen Dollar zum berühmtesten Gesicht der App, während der aus armen Verhältnissen stammende Senegalese Khaby Lame dank seines stillen Sarkasmus' reicher wurde als Politiker.

Sie alle sind keine großen Wissenschaftler*innen oder Künstler*innen, aber sie alle haben erkannt, dass die Wirtschaft mittlerweile auf dem Bildschirm stattfindet und dass der „virtuelle Raum” eine unausweichliche Realität ist.

Im arabischen Kontext sind diese Entwicklungen zu einer Bedrohung geworden. Eine Anhäufung von Reichtum jenseits staatlicher Reichweite können die Regime nicht tolerieren. In jedem Video sehen sie einen Riss in ihrer Legitimität, in jedem Post einen potenziellen Ausbruch aus ihrem Einflussbereich. 

 

Dieser Text ist eine Übertragung aus der arabischen und englischen Version mithilfe von Übersetzungsprogrammen. Bearbeitung: Jannis Hagmann

 

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