Die Renaissance des Menschenmaterials
Wenn die öffentliche Aufmerksamkeit anhaltend auf ein Thema gelenkt ist, bringt dies Gefahren mit sich. Dies gilt zumal, wenn sich diese Aufmerksamkeit mit einem starken und dominierenden Narrativ verbindet wie im Falle des Krieges in der Ukraine.
Der russische Angriff auf die Ukraine, der aus der Zeit gefallen zu sein schien und deshalb viele so überrascht hat, weckt im Westen politische Impulse, deren Saat der heutigen Politikergeneration eingepflanzt worden war, als diese im Sozial- und Staatsbürgerkundeunterricht auf der Schulbank saß. Damals, in den siebziger und achtziger Jahren, lag der Schatten der slawischen Welt über Europa. Freiheit und Demokratie mussten dagegen - notfalls robust - verteidigt werden. Die Rote Armee zog, ohne einen Schuss abzugeben, aus Ostdeutschland ab. Aber es ist dem Menschen natürlich angenehm, wenn das, was er als Kind gelernt hat, später seine Gültigkeit erweist.
Freiheit und Demokratie müssen, erweitert um Zivilisation, Recht und Menschlichkeit, in der Ukraine mit Waffengewalt verteidigt werden. Das ist der herrschende Impuls in der deutschen Politik, von Anton Hofreiter bis Friedrich Merz. Vorsichtige Gegenstimmen werden vom Donner der ins Donezk-Becken gelieferten Haubitzen übertönt und warnende Briefe an den Bundeskanzler von den Ketten der nach Osten rollenden Gepard-Panzer in den Morast gedrückt, auch wenn die Epistel von durchaus klangvollen Namen wie Ranga Yogeshwar oder Martin Walser unterschrieben ist.
Die Gegenwart im Geiste fortzuschreiben als Irrtum
Die medienkompatible Glätte des Aggressorengesichts hat sich als Maske entpuppt, die archaische Brutalität und zynische Berechnung allzu lange erfolgreich vertuscht hatte. Gegen Putin, den Demaskierten, zu sein, ist ein gemeinsamer Nenner, auf den sich viele einigen können, auch wenn sie sonst eher heterogenen Alltagsparolen wie "freie Marktwirtschaft" und "Klimaschutz" folgen.
Skepsis entzündet sich an dem Schwall flacher Ideologie, der die Debatte und das politische Handeln begleitet. Freiheit und Demokratie müssen siegen im Krieg um die Ukraine. Das ist nicht mehr nur Werturteil, sondern praktische Gewissheit, seitdem der russische Vormarsch erfolgreich aufgehalten wird und das Schlachtfeld sich auf den Osten des Landes begrenzt.
Die Gegenwart im Geiste einfach fortzuschreiben, hat sich oft als Irrtum herausgestellt, zumal im Krieg, wenn aus den ungehindert durch Belgien rollenden Waggons auf kommende große Siege geschlossen wurde. Die Diktatur des Jetzt, ein von kritischen Beobachtern als problematisch erkanntes Begleitphänomen der liberalen Demokratie, könnte ihre Macht nun auch in der geopolitischen Herausforderung des Ukrainekrieges entfalten.
Politische Schlaumeier wussten solche Situationen immer gut zu nutzen, um Dinge zu tun, für die sie sonst international getadelt worden wären. Recep Tayyip Erdogan kann jetzt darauf zählen, dass sein Feldzug gegen die kurdische PKK im Norden des Irak und Syriens nicht groß auffällt. Der frühere israelische Premier Ariel Sharon setzte genau am 12. September 2001 zu einer Militäroperation im Westjordanland an. Das sind - ihrer realen Bedeutung zum Trotz - buchstäbliche Nebenschauplätze. Ob in Jemen oder Äthiopien auch Blut fließt oder an Hunger gestorben wird, interessiert nicht so sehr. Die zentralen Interessen des Westens werden von solchen Randereignissen nicht berührt.
Die blinden Flecken der Krisenzeiten
Dass die Weltaufmerksamkeit gerade in Krisenzeiten ihre blinden Flecken hat, zeigte Erich Kästner in literarischer Überspitzung. Im Roman "Fabian" von 1931 musste ein Berliner Zeitungsredakteur eine weiße Spalte noch schnell mit einer Kurzmeldung füllen. Er erfand sie einfach: "In Kalkutta fanden Straßenkämpfe zwischen Mohammedanern und Hindus statt. Es gab, obwohl die Polizei der Situation bald Herr wurde, vierzehn Tote und zweiundzwanzig Verletzte. Die Ruhe ist vollkommen wiederhergestellt." Den Einwand eines Volontärs, in Kalkutta hätten doch gar keine Unruhen stattgefunden, beschied der Redakteur in Kästners Buch schneidig: "Wollen Sie mir das erst mal beweisen? In Kalkutta finden immer Unruhen statt."
Aber die Degradierung anderer Probleme, die auch noch da sind, zu einem Nichts ist wirklich nebensächlich. Zentral sind die Schwächen des herrschenden Narrativs, mit dem das Hauptthema, der Krieg in der Ukraine, wiedergegeben wird. Der Kampf für Freiheit und Demokratie betont ein ideelles Motiv, reich an Subjektivität. Im Meer der Solidarität mit der Ukraine droht ein Faktum unterzugehen. Zwischen Donets und Dnjepr agiert nicht bloß das Imperium, das den Krieg begonnen hat, das russische, sondern ihm steht ein zweites gegenüber, das den Angreifer besiegen will, das amerikanische.
Präsident Joe Biden will nach dem Afghanistandebakel das weltweite Ansehen und die globale Vormacht der Vereinigten Staaten wiederherstellen. Er hat die klassischen Lehrbücher der interventionistischen Außen- und Militärpolitik hervorgekramt, den Staub der Trump-Jahre davon abgeklopft und als oberkommandierender Repetitor seinem Stab den Inhalt eingebläut. Den chinesischen Aufstieg hat Biden dabei mehr als alles andere im Blick. Der augenblickliche Wettstreit imperialer Mächte erinnert an die Situation vor dem I. Weltkrieg, die von einer Reihe kleinerer Kriege, etwa auf dem Balkan, gekennzeichnet war.
Biden hat seinen Verteidigungsminister Lloyd James Austin Ende April auf den US-Stützpunkt Ramstein in der Pfalz geschickt, damit dieser seine europäischen Amtskollegen, u.a. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, dort herbeizitiert. In dieser Zusammenkunft im Felde, fernab des diplomatischen Hauptstadtparketts, bei der Austin die westliche Marschrichtung in der Ukraine vorgab, liegt eine Botschaft. Die USA betrachten Europa als militärisches Marschgebiet, das sich jederzeit in ein größeres Schlachtfeld verwandeln kann. Viel wird davon abhängen, ob China sich zu Russland letztlich so stellen wird wie das wilhelminische Reich 1914 zu Habsburg, oder nicht. Davon wird objektiv jedenfalls mehr abhängen als von der Schwere der Waffen, die Deutschland heute in die Ukraine liefert.
Lange ist über die Stärkung der Wehrhaftigkeit Europas, den Aufbau einer eigenständigen glaubwürdigen Streitmacht diskutiert worden. Es sind Worte geblieben, während sich die politischen Risse innerhalb der Union vertieften. Die Atommacht Großbritannien ist ausgetreten, Polen und Ungarn fordern demokratische Prinzipien wie die Gewaltenteilung offen heraus. In diese Situation platzte der vor allem für Deutschland überraschende russische Überfall auf die Ukraine. In Berlin herrsche ein "außenpolitisches Hühnerhaufenproblem", wie es ein erfahrener Politiker im Ruhestand im vertraulichen Gespräch ausdrückt. Die Marschroute des Westens wird von der Biden-Administration vorgegeben. Ihre engsten Partner in Europa sind dabei die osteuropäischen EU-Mitglieder außer Ungarn, England und natürlich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi.
Die grausige Ernte des Ukrainekrieges
Die rauhen Frontlinien zerklüften die Welt in Gut und Böse. Der Antagonismus könnte etwas sehr Wesentliches vergessen machen, die Einheit der Epoche. Wladimir Putin kommt das Verdienst zu, einem Begriff neues Leben eingehaucht zu haben, der einer verflossenen Zeit anzugehören schien: das Menschenmaterial. Die "sprachkritische Aktion", eine echt deutsche Veranstaltung, hatte ihn nicht ohne Grund zum "Unwort des 20. Jahrhunderts" erklärt. Seit den Massakern von Mariupol, Tschernihiv und Butscha und seitdem unser Zeitgenosse Diktator Putin bewiesen hat, dass er Zehntausende junge Soldaten in den Tod schicken kann, ohne eine Revolte befürchten zu müssen, erlebt der Begriff eine schreckliche Aktualität.
Spätestens seitdem, muss man präzisieren. Denn die Neigung, in Menschen Material zu sehen, hatte Putin vorher schon durchblicken lassen. Sie zeigte sich etwa in der Art, wie die russischen Interventionskräfte seit 2015 den Krieg in Syrien führten, mit Flächenbombardements auf dicht besiedelte Stadtviertel, dem dadurch verursachten massenhaften Tod und fast mehr noch mit der damit einhergehenden massenhaften Vertreibung. Die syrischen Vertriebenen verwandelten sich in eine Verfügungsmasse, die Putin, in kaltem Zusammenspiel mit den nationalistischen Parteien in Europa, immer wieder als politischen Trumpf gegen die Regierungen der EU-Staaten eingesetzt hat.
Karl Marx hatte das Wort vom Menschenmaterial gemünzt als ironischen Kommentar auf das gesellschaftliche Selbstbewusstsein der besitzenden, ausbeutenden Klasse. Die deutschen Kriegsherrn und Leiter von Konzentrationslagern des 20. Jahrhunderts versachlichten den Begriff, entkleideten ihn jeder Ironie. Putin nimmt ihn gar nicht in den Mund, lässt den wiederbelebten Begriff vom Menschenmaterial allein durch seine Taten sprechen, postzynisch, könnte man sagen.
Freiheit, Würde und Autonomie des Individuums zu schützen, hat sich die Demokratie zur Aufgabe gemacht. Und natürlich hat jeder recht, der sich empört, weil Putin diese Rechte und das Recht auf Leben selbst mit Füßen tritt. Die Renaissance des Menschenmaterials ist die grausige Ernte des Ukrainekrieges.
Und doch wäre es falsch, die Tendenz allein dem russischen Imperium zuzuschreiben. Ob menschliche Freiheit und Autonomie in den real existierenden Demokratien tatsächlich gedeihen, ist zu hinterfragen. Dass auch Demokratien wenig zimperliche Angriffskriege führen können, haben die USA im Irak bewiesen. Aber das Menschenmaterial kann auch in abweichender Gestalt wiedergeboren werden, als Megastau auf der Autobahn, als Masse auf einem Kreuzfahrtschiff, als Twittergemeinschaft, als Zielgruppe und Verbraucher überflüssiger Waren und Dienstleistungen, als ausgebeutete Fabrikarbeiter, Näherinnen und Näher und vielleicht als gut ausgerüstete und kampfbereite Soldaten, nach der Zeitenwende auch wieder hier bei uns.
Wenn die postmaterialistischen Individuen bei Amazon neue Waren bestellen, um in der Pandemie nicht unglücklich zu werden, überfällt einen jedenfalls die Sorge, dass diese Menschen mit ihrem Material verwachsen könnten. Oligarch Jeff Bezos wird das Privileg haben, zur Not den ganzen Müll hinter sich zu lassen und sich mit ein paar Vertrauten auf einen anderen Planeten oder einen Trabanten zu schießen.
Ob der freie und aufgeklärte Mensch in der Lage ist, seiner Verantwortung nachzukommen, die natürlichen Grundlagen seiner Existenz zu bewahren, darin haben manche Kommentatoren, es waren wohl nicht die dümmsten, die Schlüsselfrage des 21. Jahrhunderts gesehen.
Nun wird die Herausforderung radikal umformuliert. Es gehe um den Kampf zwischen den politischen Systemen, zwischen Demokratien und Autokratien. Es klingt ein bisschen wie eine kollektive Flucht. Als traue man sich das Bestehen jener eigentlichen Prüfung von vornherein nicht zu. Lieber regrediert man und verheizt sich als Menschenmaterial. Es ist wie der Selbstmord aus Angst vor dem Tod. In dieser allgemeinen Tendenz liegt, über alle System- und Schützengräben hinweg, das verbindende Element der Epoche.
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Der Autor arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Politikmagazin Panorama .