Ein Gerichtssaal als Mikrokosmos der Gesellschaft
In dem Film des libanesischen Regisseurs Ziad Doueiri geht es um weitaus mehr als das, was mit dem Titel suggeriert wird. Ein Mann beleidigt einen anderen Mann und setzt dadurch Geschehnisse in Gang, die nicht nur die beiden Herren betreffen, sondern gleich auch ihre Familien, ihre Arbeit, ihre Herkunft.
Dabei wird die eigentliche Beleidung schnell sekundär: "Scheißkerl" ist nicht mal ein besonders schlimmer Ausdruck, doch bedenkt man, wer die beiden sind und in welchem Kontext sie im Moment der Konfrontation zueinander stehen, dann kann man den Ernst der Situation viel besser verstehen.
Komplexe Fragen bleiben unbeantwortet
Der Christ Toni (Adel Karam) ist Automechaniker und feuriger Anhänger der rechtspopulistischen "Kataeb Partei" in Beirut. Er kann ganze Reden des ehemaligen Präsidenten Bachir Gemayel auswendig und ist der Meinung, dass man Palästinenser überall schon längst hätte auslöschen sollen. Seine Frau Shirine (Rita Hayek) ist schwanger und möchte in ein anderes Viertel ziehen, doch Toni will davon nichts wissen.
Eines Tages steht ausgerechnet der Palästinenser Yasser (Kamel El Basha) unter Tonis Balkon. Er stellt fest, dass Wasser auf vorbeilaufende Passanten tropft – ein Verstoß gegen die Bauvorschriften. Yasser ist zwar in den Libanon geflüchtet, hat sich aber zum Werkmeister hochgearbeitet und kann die Abflussanlage reparieren. Auch davon möchte Toni nichts wissen – prompt schlägt er das neue Abflussrohr wieder kaputt.
Es kommt es zu mehreren Wortgefechten. Als Yasser dann handgreiflich wird und seinem Gegenüber ein paar Rippen bricht, landet der Vorfall vor Gericht. Und dort ist das Ganze bereits zur Staatsangelegenheit mutiert. Wer trägt die Schuld? Ist Tonis Äußerung über Palästinenser nicht mindestens so schlimm wie Yassers Beleidigung? Hätte ihn Yasser dafür allerdings schlagen sollen? Der Film wirft viele solcher komplexer Fragen auf, gibt jedoch keine klaren Antworten für den Zuschauer.
Die Balance zwischen Stil und Substanz
Das Drehbuch schreitet mit einem bemerkenswerten Tempo voran. Bereits in der ersten Viertelstunde werden alle wesentlichen Charaktere eingeführt sowie der Hauptkonflikt etabliert. Die restliche Zeit kann der eigentlichen Gerichtsverhandlung gewidmet werden. Und aus diesen Szenen im Gerichtssaal schöpft der Film seine größte Kraft.
Wajdi Wehbe (Camille Salameh - brillant), der zu selbstsichere, über sich in der dritten Person sprechende Anwalt Tonis, hat die besten Dialoge, wie etwa "Euer Ehren, wir sind im Nahen Osten. Das Wort 'Beleidigung' entstand hier. Herr Toni kann nicht dafür verantwortlich gemacht werden."
Doeuri beweist durchgehend einen sehr eigenen Stil. Zum einen setzt er kompromisslos auf hollywoodisierte Schockmomente (als ehemaliger Kameraassistent von Quentin Tarantino holt er mehr als einmal zu dramatischen Bildeinstellungen und Kameraschwenks aus).
Zum anderen interessiert er sich auch wirklich für die Historie seines Landes und bietet eine tiefgründige Auseinandersetzung mit der selbigen. Er begegnet allem mit einer feinen Balance aus Glanz und Substanz, was für diese Art von Mix aus populärem- und Arthouse-Kino angemessen ist.
Der Fall von allen Seiten betrachtet
Überhaupt dürften gerichtliche Fälle für den Regisseur nicht fremd sein: Als Doueiri nach der venezianischen Premiere seines Films "The Attack" in seine Heimat zurückkehrte, wurde er am Flughafen verhört, weil er bestimmte Portionen in Israel gedreht hatte.
Und auch sonst positioniert Doueiri sich gegen einen Boykott von Israel, wofür viele kein Verständnis aufzeigen. "Der Affront" war wiederum letztes Jahr Libanons offizieller Oscar-Beitrag und bekam eine Nominierung als bester ausländischer Film. Seine Arbeit wird also differenziert wahrgenommen und rezipiert.
Diese Mannigfaltigkeit an Reaktionen scheint Doueiri in seinem neuen Werk verarbeitet zu haben. Im Kern ist "Der Affront" auch nur ein Statusreport der arabischen Welt und der Gerichtssaal ein Mikrokosmos der libanesischen Gesellschaft.
Im übertragenen Sinne geht es natürlich nicht nur um die arabische Welt oder Libanon. Der Palästinenser und Christ dieser Geschichte könnten genauso gut der Republikaner und Demokrat oder der Sunnit und Schiit anderswo sein. Doueiri gibt beiden Seiten die Möglichkeit, ihre Punkte vorzulegen und ergreift nie Partei für Toni oder Yasser.
Niemand geht als Gewinner hervor
In einer emotional aufgeladenen Szene schreit Toni "Es lohnt sich, Palästinenser zu sein!" Natürlich stellt man als Zuschauer fest, dass hier niemand mehr im Vorteil ist. Weder Yasser, der seine palästinensischen Landsleute als "Neger der arabischen Welt" bezeichnet, noch Toni, den man gegen Ende ein wenig besser versteht.
Ein historischer Vorfall, der dem Gericht spät präsentiert wird, erklärt, dass unter all dem Ressentiment auch nur ein weiterer, traumatisierter Mensch steckt. Es lohnt sich also nicht unbedingt, Palästinenser oder Christ zu sein. Es lohnt sich aber, ein Mensch zu sein. Und als Mensch sollte man immer im Dialog miteinander treten.
Schayan Riaz
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