"Wir müssen die alte Arroganz ablegen"
Herr Steinbach, trotz der skandalumwitterten Fußball-WM in Katar plädieren Sie für engere Beziehungen zu den Golfstaaten. Warum?
Udo Steinbach: Sie sind die Zukunft im arabischen Raum. Wenn wir die Golfstaaten mit Ägypten oder der Levante vergleichen, so müssen wir feststellen, dass am Golf die Zukunftsfragen diskutiert werden. Wissenschaft und Technologie sind die Themen, die dort derzeit interessieren, während im Rest der arabischen Welt hoffnungslos die alten Debatten geführt werden.
Es gibt zwar noch präsidiale Strukturen am Golf, aber man sucht den Anschluss an die fortschrittlichen Kräfte im globalen Sinne. Das macht die Golfstaaten im Augenblick so interessant.
Aber diese Entwicklung passiert doch nicht von innen heraus. Es gibt nach wie vor keine ernst zu nehmende Forschungseinrichtung von Weltrang. Die Golfstaaten kaufen sich alle Expertise von außen ein, oder?
Steinbach: Ja, sie kaufen sich Expertise von außen ein, aber die Frage muss ja lauten, warum tun sie das? Aus Größenwahn, um zu protzen? Ich meine, es steckt mehr dahinter. Der kulturelle und historische Hintergrund der Emirate ist doch, dass sie lange am Ende der Welt lagen.
Lang im Windschatten der internationalen Politik
Aber auf der anderen Seite handelt es sich um Seefahrerstaaten. Vom Golf oder von der omanischen Küste aus konnte man in den Indischen Ozean gelangen.
Dadurch ist ein Selbstbewusstsein entstanden, das die Golfstaaten seit jeher besitzen. Doch lange Jahre lagen sie im Windschatten der arabischen und internationalen Politik. Seitdem Öl und Gas die treibenden Kräfte geworden sind, treten sie aus diesem Schatten heraus. In den Golfstaaten wird fast nur über die Zukunft diskutiert, die Vergangenheit spielt keine Rolle.
Das erkennt man zum Beispiel an den Museen, die in den Emiraten eröffnet werden, alle Sammlungen sind zukunftsorientiert. Gleichzeitig bleiben die Golfstaaten doch ihren politischen, sozialen und kulturellen Traditionen verhaftet. Es fasziniert mich ungemein, wie sie einerseits ihren Traditionen verbunden bleiben und dann aus einer inneren Dynamik heraus das Modernste, das Größte, erschaffen und sich an die Spitze der Moderne setzen wollen.
Schaffen sie denn tatsächlich diesen Spagat zwischen Tradition und Moderne?
Steinbach: Das kann man im Augenblick so sagen. Die Verhältnisse mögen zuweilen abartig erscheinen, wie bei der Fußball-WM. Aber dass Katar die Fußball-WM, nach den Rahmenbedingungen der FIFA, ausrichten konnte, war für die ganze arabische Welt eine Riesensache. China und Russland haben die WM ja auch bekommen und auch dort stand die Frage der Menschenrechte im Raum.
Seitdem die Spiele 2010 an Katar vergeben worden waren, hat sich allerdings die Weltlage total verschoben, es gibt neue Gewichtungen und neue Kräfteverhältnisse. Deshalb führte es zu so einem großen Aufsehen, dass ein Land wie Katar die WM ausrichten durfte. Natürlich hatte das auch mit Geld und Statusfragen zu tun, aber die Vergabe der WM an Katar ist auch eine Teil der neuen politischen Dynamik, die wir gerade sehen.
Eine Situation voller Widersprüche
Ist es auch Teil dieser Dynamik, wenn Katar die Europäische Kommission schmiert, um Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen?
Steinbach: Bestechung gehört sicherlich nicht zu dem Stil, in dem man internationale Beziehungen pflegen sollte. Aber es gibt offensichtlich auch auf europäischer Seite Menschen, wie auch im Falle des Zuschlags der WM an Katar, die für das große, leicht verdiente Geld empfänglich sind.
Wenn die EU ihrem Anspruch gerecht werden will, eine werteorientierte Politik zu betreiben, muss sie ihre Partner zum Gespräch über Werte einladen. Wenn sich aber die Beziehungen nur auf das Geschäft mit "den Scheichs" beschränken, darf man sich nicht wundern, wenn auch diese "Scheichs" nur geschäftlich agieren.
Die Situation ist doch voller Widersprüche, auch bei uns. Die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesrepublik sagte ihre Reise nach Katar ab, die Innenministerin flog dorthin. Wirtschaftsminister Habeck machte einen Diener in Doha, um Gas kaufen zu dürfen. Die deutsche Nationalelf hält sich die Hand vor den Mund, um auf die fehlende Meinungsfreiheit hinzuweisen.
Steinbach: Wir haben noch nicht verstanden, worum es eigentlich geht. Wenn wir über Katar und die Emirate reden, schwingt im Hintergrund stets ein despektierliches Bild mit. Auf der anderen Seite wollen wir Öl und Gas von dort beziehen. Aber wie können wir so mit den Menschen am Golf reden, dass wir die richtige Wellenlänge treffen? Bei Katar sind wir nicht in der Lage, die Situation und die Perspektive des Landes zu verstehen, sondern wir sehen einzig und allein die Menschenrechtsverletzungen. Aber ein arabisches Land wie Katar kann eben auch Weltspitze sein.
Ja, es stimmt, dass migrantische Arbeitskräfte jahrelang ausgebeutet worden sind, aber es hat auch Verbesserungen gegeben, die auch die Gewerkschaften anerkennen. Millionen von Menschen in Pakistan und Bangladesch leben von den Beträgen, die Migranten aus Katar nach Hause überweisen.
Veränderung durch Dialog
Bei der Fußball-WM ging es ja nicht nur um die Situation der Migranten, die die Stadien gebaut haben, sondern auch grundsätzlich um die moderne Sklaverei am Golf. Wenn ausländische Arbeitskräfte wie Leibeigene behandelt werden, ihren Pass abgeben müssen und ihre Stelle nicht einfach wechseln können.
Steinbach: Stimmt, das passt nicht in die heutige Zeit und daran entzündet sich auch die meiste Kritik. Es gibt aber seriöse Ansätze, um das zu ändern. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) weist darauf hin, dass es bereits Verbesserungen gibt und die Realität eine andere ist als noch vor zehn Jahren. Durch die Diskussionen, die wir seither führen, hat sich viel verändert.
Das heißt, Veränderung hat durch Dialog stattgefunden?
Steinbach: Ja, und wir müssen auch weiter im Dialog bleiben, aber die richtige Tonlage finden. Das wird mir immer wieder gesagt, wenn ich am Golf bin: Wir wollen Geschäfte mit Chinesen und Russen machen, aber reden wollen wir mit Europa. Auf einer Basis der Gleichrangigkeit, also auf Augenhöhe und ohne diese alte Arroganz, mit der die Europäer zuweilen auftreten.
Im Verhältnis zu den Golfarabern dürfen wir nicht nur die wirtschaftlichen Interessen in den Vordergrund stellen, wir müssen auch kulturelle Interessen bedienen, was Chinesen und Russen nicht machen.
Wir müssen begreifen, dass sich die Welt verändert hat und wir nicht mehr so auftreten können wie früher. Wir haben eine völlig falsche Einschätzung der politischen und sozialen Verhältnisse in der Region. Der Golf war bisher nie Gegenstand deutscher Politik, erst durch die Energiekrise werden wir mit der Region konfrontiert. Der Golf und die Arabische Halbinsel waren bis dato ein weißer Fleck für die deutsche Politik.
Die Zukunft liegt am Golf
Müssen wir uns erst aneinander gewöhnen? Gibt es deshalb so viele Irritationen im Moment?
Steinbach: Wir müssen einander kennenlernen. Die Kräfteverhältnisse sortieren sich gerade neu und dadurch gibt es auch am Golf und im Nahen Osten Turbulenzen über die Führungsrolle, Rivalitäten zwischen Katar, den Emiraten und Saudi-Arabien. Nehmen Sie beispielsweise Ägypten. Das Land war über Jahrzehnte führend im Nahen Osten. Heute ist Ägypten ein Nichts.
Selbst in der Arabischen Liga spielt Ägypten längst nicht mehr die Rolle, die es einmal hatte. Das ist die große Herausforderung der arabischen Welt. Sie muss mit einem neuen Weltverständnis wieder zusammenfinden, um Syrien, den Irak und andere Länder wiederaufzubauen. Europa und die Amerikaner können zwar Hilfestellung leisten, aber die Kapazitäten zur Entwicklung müssen aus dem arabischen Raum selbst kommen.
Kann man denn heute überhaupt noch von d e r arabischen Welt reden?
Steinbach: Doch, eigentlich schon. Der arabische Nationalismus hat zwar abgewirtschaftet, wohl wahr, aber eine pragmatische Zusammenarbeit kann man schon erkennen. Und die Golfstaaten wollen sich an die Spitze setzen. Darin sehe ich eine Chance, dass sie die Zukunft der arabischen Welt gemeinsam gestalten.
Das Gespräch führte Birgit Svensson.
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Udo Steinbach,1943 in Zittau geboren, ist Islamwissenschaftler und leitete von 1976 bis 2007 das Deutsche Orient-Institut in Hamburg. Heute ist er Vorstandsmitglied der Deutsch-Arabischen Freundschaftsgesellschaft und verantwortlich für das MENA-Study Center der Maecenata Stiftung.