Schmerzhafter Schulterschluss
Als "neuen Friedensprozess“ bezeichnet der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan das geplante Treffen mit Syriens Machthaber Bashar al-Assad. Tatsächlich hätte ein türkisch-syrischer Deal keinerlei friedensstiftende Wirkung. Im Gegenteil: Er würde das Elend in Syrien verstärken, die in der Türkei lebenden syrischen Geflüchteten in Gefahr bringen, kurdische Selbstbestimmung zerstören, Assads Rückkehr in die internationale Staatengemeinschaft vorantreiben und sein verbrecherisches Regime stärken.
Erdogans Motivation für die Kehrtwende gegenüber Assad ist der eigene Machterhalt. Er will die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Frühsommer gewinnen und braucht dafür konkrete Erfolge. Zwei wichtige Wahlkampfthemen – die fast vier Millionen syrischen Geflüchteten in der Türkei und die angeblich existenzielle Bedrohung durch die kurdische Selbstverwaltung in Nordostsyrien – könnten sich mit Assad lösen lassen, hofft Erdogan.
Das zumindest verspricht Russlands Präsident Wladimir Putin, der sich seit Jahren um eine Annäherung der beiden bemüht. Würde die Türkei ihre Beziehung zu Damaskus normalisieren, könnten sowohl die Rückführung von syrischen Geflüchteten als auch die Zerschlagung der Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyrien (AANES) ausgehandelt und gemeinsam betrieben werden, so das russische Argument.
In Damaskus zeigt man sich offen, aber zurückhaltend. Assad wird für Erdoğan nicht den Wahlhelfer spielen – schließlich besetzt die Türkei im Norden syrisches Territorium. In drei völkerrechtswidrigen Militärinterventionen hat sie Gebiete entlang der Grenze zwischen Afrin und Ras al-Ain (auf Kurdisch Serê Kaniyê) erobert, die sie mit syrischen Islamisten und Statthaltern kontrolliert. Mehrere Hunderttausend vor allem kurdische Bewohner wurden dabei vertrieben.
Kurdisches Autonomieprojekt in Gefahr
Um einem Treffen gesichtswahrend zustimmen zu können, braucht Assad Gesten des guten Willens – etwa freie Fahrt auf der strategisch wichtigen Autobahn M4, die im Norden durch verschiedene Einflusszonen von der Küste bis an die irakische Grenze führt und eigentlich von russisch-türkischen Patrouillen gesichert werden soll.
Außerdem müsste Erdoğan Bereitschaft zeigen, türkische Truppen aus den Oppositionsgebieten abzuziehen und deren Verwaltung dem syrischen Regime zu überlassen. Darauf könnte sich der türkische Präsident einlassen, wenn der syrische Staatschef umgekehrt zusagt, den Nordosten wieder komplett unter seine Kontrolle zu bringen. Das kurdisch dominierte Autonomieprojekt würde aufgelöst, die Verwaltung wieder aus Damaskus gesteuert.
Die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), die der Westen als Verbündete im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) betrachtet, während Ankara sie wegen ihrer ideologischen Verbindungen zur PKK als Terroristen bezeichnet, würden in die syrische Armee eingegliedert.
Die Umsetzung dieser Pläne ist jedoch kompliziert. Denn wohin sollen die in der Türkei lebenden syrischen Geflüchteten zurückgehen, wenn Assad ganz Nordsyrien kontrolliert? Die meisten von ihnen sind vor der Gewalt des Regimes geflohen, sie sind in den Assad-Gebieten weder willkommen noch sicher und werden deshalb nicht freiwillig zurückkehren.
Zwar schiebt die Türkei nach Recherchen von Human Rights Watch schon jetzt Hunderte Syrer gegen ihren Willen nach Syrien ab, aber noch landen diese entweder in der von der Extremistenmiliz HTS kontrollierten Provinz Idlib oder in den türkisch besetzten Gebieten. Sobald entlang der Grenze die syrischen Geheimdienste das Sagen haben, drohen den Rückkehrern Verfolgung, Erpressung, Zwangsrekrutierung, Gefangennahme, Folter und Tod. Aus den gleichen Gründen werden Menschen aus Nordostsyrien in Richtung Nordirak fliehen – wer sich in der Vergangenheit politisch engagiert hat, kann unter Assads Herrschaft nicht mehr leben.
Rückeroberung Idlibs rückt in weite Ferne
Die angestrebte Lösung könnte im Nordwesten liegen. Putin hat Assad wohl zu verstehen gegeben, dass er eine Rückeroberung Idlibs bis auf weiteres vergessen soll, weil Russland mit der Ukraine beschäftigt ist und eine Militäroffensive Millionen Menschen Richtung Türkei treiben würde, wodurch Erdoğan mit noch mehr Geflüchteten zu tun hätte. Idlib könnte folglich zum Sammelbecken für Syrien-Heimkehrer werden – in Schach gehalten von den HTS-Extremisten, humanitär notdürftig versorgt durch die überwiegend westlich finanzierte UN-Hilfe.
Das würde erklären, warum Moskau der Verlängerung dieser cross-border-Unterstützung am 9. Januar im Weltsicherheitsrat so widerstandslos zugestimmt hat. Für die Menschen vor Ort – vier Millionen Zivilisten, von denen viele ohne Strom und fließend Wasser in zugigen Zelten oder Bauruinen festsitzen, ohne Schulen, geregelte Arbeit und irgendeine Perspektive – wird das Leben dann noch elender.
Assad hat seine Propaganda entsprechend angepasst, Feind Nummer eins sitzt nicht länger in Idlib und den türkisch besetzten Gebieten, sondern im Nordosten. Statt gegen Ankaras "Terroristen“ zu hetzen werden jetzt die kurdischen Kämpfer der YPG als "Verräter“ und "Agenten der Amerikaner“ beschimpft. Feindbilder sind austauschbar – in der Türkei wie in Syrien. In diesem Fall müssen die Kurden als gemeinsamer Gegner herhalten, mit fatalen Folgen für ihre dem Regime abgerungene und gegen den IS erkämpfte Selbstbestimmung.
Für Assad ist das Gesprächsangebot Erdoğans ein willkommenes Geschenk. Eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Ankara und Damaskus wäre für ihn ein erster großer Schritt zurück auf die internationale Bühne. Schon jetzt nutzt er die türkisch-syrischen Treffen, um seine arabischen Nachbarn unter Druck zu setzen – schließlich wollen diese Syrien nicht dauerhaft an ihre Rivalen Türkei und Iran verlieren, sondern im eigenen Einflussbereich halten.
Was wird aus der syrischen Oppisition im türkischen Exil?
Für eine schleichende Übernahme der kurdischen Selbstverwaltung und das im Nordosten liegende Öl und Gas hätte der syrische Staatschef grünes Licht aus Moskau. Unter dem anhaltenden Beschuss der Türkei könnte die AANES einem Abkommen mit Damaskus zustimmen, das Washington hinnehmen müsste. Die Amerikaner würden sich zurückziehen, Tausende ausländische IS-Anhänger würden zum Faustpfand Assads.
Die Exil-Opposition ist schon jetzt Erdoğans Verhandlungsmasse. Die Türkei finanziert nicht nur die islamistischen Milizen der Syrischen Nationalen Armee (SNA), die in Ankaras Auftrag ihre kurdischen Landsleute bekämpfen, sondern beherbergt mit der Nationalen Koalition auch das größte Bündnis der Assad-Gegner. Seit Sommer 2022 fordert Erdoğan diese zur Versöhnung mit Damaskus auf – angesichts der anhaltenden Verbrechen des syrischen Regimes eine aus Sicht der Oppositionellen unerhörte Forderung.
In den von ihnen mitverwalteten türkischen Protektoraten gibt es immer wieder Proteste gegen die Annäherung an Damaskus. Türkische Regierungsvertreter beteuern deshalb, sie würden ihre syrischen Verbündeten nicht im Stich lassen. Doch im Falle einer Einigung wären die Tage der Nationalen Koalition gezählt.
Viele ihrer Mitglieder sind als unfähige Vasallen Erdogans diskreditiert, dennoch hat sich die Nationale Koalition über die Jahre als Ansprechpartner etabliert. Entzieht die Türkei ihr die Unterstützung, wird es bei zukünftigen diplomatischen Initiativen keinen offiziellen Vertreter der Opposition geben. Gut für Assad, der ohne Gegenüber noch weniger Grund hat zu verhandeln. Vielleicht aber auch eine Chance für Millionen Auslandssyrerinnen und -syrer, über neue Formen der Selbstorganisation nachzudenken und dabei ideologische und gesellschaftliche Gräben zu überwinden.
Die für Syrerinnen und Syrer bitterste Erkenntnis ist, dass Erdoğans Kehrtwende auch ohne ihn stattfinden wird. Gewinnt bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen die mehrheitlich nationalistische Opposition, wird sich diese womöglich noch schneller mit Assad einigen und mehr syrische Menschen zurückschicken als die aktuelle Regierung. Da das Parteienbündnis zugleich mehr Rechtsstaatlichkeit verspricht, könnten Amerikaner und Europäer den Machtwechsel zum Neustart ihrer Beziehungen mit Ankara nutzen. Kritik an dem türkischen Vorgehen gegen die Kurden ist dann noch weniger zu erwarten.
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Die Politikwissenschaftlerin und Journalistin Kristin Helberg lebte von 2001 bis 2008 in Damaskus, wo sie lange Zeit die einzige offiziell akkreditierte westliche Korrespondentin. Heute arbeitet sie als Autorin und Nahost-Expertin in Berlin. Sie hat mehrere Sachbücher geschrieben, u.a. „Verzerrte Sichtweisen – Syrer bei uns. Von Ängsten, Missverständnissen und einem veränderten Land“ und „Der Syrien-Krieg. Lösung eines Weltkonflikts“.