Eine Ideologie des Giftes
Deutlicher hätten die britischen Imame sich in ihrer Fatwa gegen die Terrormiliz "Islamischen Staat" (IS) nicht ausdrücken können. "IS ist eine häretische, extremistische Organisation, und es ist religiös verboten (haram), sie zu unterstützen oder sich ihr anzuschließen. Weiterhin ist es für britische Muslime eine Pflicht, sich dieser giftigen Ideologie aktiv entgegenzustellen, vor allem dann, wenn sie in Großbritannien verbreitet wird."
Unterzeichnet haben die Fatwa, also das religiöse Rechtsgutachten, religiöse Führer der britischen Muslime: Die führenden Imame der beiden Zentralmoscheen von Leicester und Manchester, der führende Imam der Makkah-Moschee von Leeds, der Ko-Direktor der Vereinigung der britischen Muslime, der Gründer des Islamischen Rats im Vereinigten Königreich sowie Usama Hasan, der Verfasser der Fatwa und Direktor für theologische Fragen der Quilliam-Stiftung, einem Think Tank, der sich mit religiösem Extremismus auseinandersetzt.
Schwere Vorwürfe gegen den IS
Der IS ermorde Journalisten, Zivilisten und Imame, die sich der Organisation verweigerten, heißt es in der Fatwa. Zudem versklave er die Frauen und Kinder seiner Gegner. Dadurch habe er gegen die Genfer Konvention und die Abkommen gegen Sklaverei verstoßen.
"Die Verfolgung und Massaker an schiitischen Muslimen, Christen und Jesiden ist furchtbar und widerspricht islamischen Lehren und islamischer Toleranz, wie sie große islamische Reiche wie das der Mogulen und der Osmanen praktizierten." Die Fatwa der britischen Muslime ist nicht die erste ihrer Art. Vor einigen Wochen sprachen auch die Theologen der Kairoer Al-Azhar-Universität eine Fatwa gegen den IS aus, Ende Juli auch Theologen aus Saudi-Arabien.
Mögliche Auswirkungen der Fatwa
Das islamische Rechtsgutachten aus Großbritannien könne sich auf unterschiedliche Art auswirken, sagt Stephan Rosiny, Nahostexperte am Hamburger GIGA-Institut. Die Kämpfer und Anhänger des "Islamischen Staates" würden sich durch eine solche Fatwa sicherlich nicht beeindrucken lassen. "Denn nach ihrer Ansicht sind ohnehin alle Muslime, die dem Kalifen des 'Islamischen Staates' nicht huldigen, Glaubensabtrünnige. Insofern sind die Imame, die diese Fatwa ausgesprochen haben, für sie auch keine legitimen Autoritäten."
Andere Muslime, die mit dem IS womöglich politisch sympathisierten, könnten für die Fatwa aber durchaus empfänglicher sein. Eine entsprechende theologische Diskussion könne mittelfristig die Glaubwürdigkeit des IS untergraben. "Letztlich kann der 'Islamische Staat' ideologisch nur aus der sunnitischen Gemeinschaft heraus, von sunnitischen Religionsgelehrten, entzaubert werden. Man muss ihm die religiöse Legitimität entziehen, indem man beispielsweise die Kriterien für die Ausrufung seines Kalifats hinterfragt und die religiöse Rechtfertigung für den Terror im Irak und in Syrien widerlegt."
"Eine religiös inspirierte Ideologie"
Auch Usama Hasan, der Verfasser der Fatwa, geht davon aus, dass diese Wirkung zeigen könnte - jedenfalls bei denen, die sich an den herkömmlichen sunnitischen Autoritäten orientierten. Allerdings, sagte er in einem früheren Interview mit der DW, kämpften in Syrien und Irak auch Menschen, die ganz andere Ziele verfolgten. Für sie gehe es in erster Linie um die Durchsetzung von Machtansprüchen. "Insofern ist es sehr nützlich für sie, sich auch mit religiös motivierten Kämpfern zu verbinden, die wirklich an die Religion glauben. Sie verbünden sich mit ihnen, ohne selbst wirklich gläubig zu sein. In diesem Moment verbindet sich Religion mit Politik und wird zu einem bloßen Machkampf."
In diesem Kontext spielen Hasan zufolge religiöse Erwägungen eine untergeordnete Rolle. Sie diene wesentlich als Vorwand, um ganz andere Ziele durchzusetzen. "Es handelt sich um eine von der Religion inspirierte Ideologie. Man könnte sie als einen ins Extreme geführten politischen Islam bezeichnen. Dieser rechtfertigt Gewalt, um einen islamischen Staat zu errichten."
Das sieht auch Stephan Rosiny so. Der IS habe seine Herrschaft auf einem pseudoreligiösen Konstrukt aus frühislamischen Versatzstücken errichtet. "Dazu gehört etwa die Ausrufung des 'Zweiten Raschiden-Kalifats', das somit die Kontinuität zum Frühislam der ersten vier 'rechtgeleiteten' Raschiden-Kalifen von 632 bis 661 sucht. Die erste Freitagspredigt des Kalifen Ibrahim war gespickt mit religiösen Symbolen aus der Frühzeit des Islam, wodurch sie den Anschein religiöser Authentizität erwecken sollte."
Diese religiösen Emotionen verstärkten und bestätigten sich gewissermaßen, wenn sie mit militärischen Erfolgen einhergingen, wie sie der "Islamische Staat" derzeit noch erlebt. Die Erfolge sollen quasi belegen, dass sie in Gottes Auftrag handelten. Um den "Islamischen Staat" zu besiegen, brauche es darum zweierlei: "Einerseits militärische Stärke, die diese Erfolgschronologie durchbricht und stoppt. Und andererseits theologische Autoritäten, die die religiöse Legitimität infrage stellen." Erst dann könne die religiöse Euphorie der Dschihadisten und ihr Nachschub an neuen Kämpfern gebrochen werden.
Kersten Knipp
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