Die Wunden heilen nur langsam
Am 20. März 2003 rollten Panzer von Kuwait in den Irak. Sie sollten dem Land und seinen Bürgern Freiheit bringen. "Iraqi Freedom“, so der Name der Militärinvasion einer "Allianz der Willigen“ unter US-amerikanischem Kommando, brachte Leid und Zerstörung. Deutschland und Frankreich machten nicht mit, Großbritannien und die Ukraine waren dabei. Widerstand gegen die Besatzer, Bürgerkrieg zwischen den unterschiedlichen Ethnien und Religionen, Terror von Al-Qaida und später dem IS waren die Folgen. Der Irak fiel ins Chaos.
Heute erinnert niemand und nichts an den 20. Jahrestag der Invasion der US-Armee, einen Tag, der den Nahen und Mittleren Osten erschütterte. Der kurdische Präsident Iraks ist in Suleimaniyye, um die Feierlichkeiten zum bevorstehenden Newroz, dem kurdischen Frühlingsfest, vorzubereiten. Der schiitische Premierminister hat einen ganz normalen Arbeitstag.
Die Ablehnung der Amerikaner durch die Irakerinnen und Iraker ist immens, von Erbil im Norden bis Basra im Süden. George W. Bush hat mit seinem Krieg die Autorität und das Ansehen der USA nachhaltig geschwächt. Nachbarn wie der Iran, die Türkei, Syrien und auch Saudi-Arabien tun seitdem alles, um eine Demokratisierung des Landes zu verhindern. Der Irak hat noch einen steinigen Weg vor sich.
Als der jetzige US-Präsident Joe Biden 2006 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im US-Senat war, tobte im Irak der Terror. Irakische Aufständische verbündeten sich mit Al-Qaida, täglich gab es Anschläge auf US-Truppen und alle, die mit ihnen zu tun hatten. In Bagdad brach ein Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten aus.
Die Amerikaner suchten nach Lösungen, um ein Abgleiten des Irak ins totale Chaos zu verhindern. Nach der Invasion hatten sie außer dem minutiös geplanten militärischen Einsatz keinen Plan für die politische Zukunft. Biden schlug damals vor, das Land in den kurdischen Norden, eine Region für die Sunniten und eine für die Schiiten aufzuteilen. Dazu ist es zwar nicht gekommen, aber die Aufteilung der Macht entlang ethnischer und religiöser Linien durch US-Administrator Paul Bremer hatte verheerende Folgen.
Bagdad – die Vielfalt Iraks
"Unter Saddam waren wir alle Iraker, unter den Amerikanern wurden wir Sunniten, Schiiten und Kurden“, sagt Mohammed Shirwani in Bagdad. "Nachbarn wurden Feinde.“ Mohammed ist 59 Jahre alt, Elektroingenieur, Kurde, in Leipzig geboren und in Bagdad aufgewachsen. Anders als im Süden des Irak, wo mehrheitlich Schiiten leben, zeigt sich in Bagdad der Vielvölkerstaat in seiner ganzen Vielfalt. Neben schiitischen und sunnitischen Arabern und Kurden wohnen hier Turkmenen, Christen, Jesiden, Mandäer und Kaka’i.
Was den Irak so einzigartig macht, wurde dem Land plötzlich zum Verhängnis. Drei Jahre nach der Invasion waren die konfessionellen Gegensätze so verhärtet, dass eine große Umzugswelle über Bagdad schwappte. Sunniten zogen aus Angst, von ihren schiitischen Nachbarn umgebracht zu werden, aus ihren Häusern. Und umgekehrt. Gemischte Familien brachen auseinander oder flohen in den Nordirak, nach Kurdistan. Diese Segregation fängt an, sich gerade wieder aufzulösen, hat aber bis heute weitgehend Bestand.
Der von den Amerikanern eingeführte Proporz zur Machtverteilung hielt sich hartnäckig. Nur einmal verbündeten sich die Iraker über konfessionelle Grenzen hinaus, als eine Protestwelle von Basra nach Bagdad schwappte. Während die Demonstranten im Süden mehr Strom und Jobs forderten, wurden sie in Bagdad politisch. Der Tahrir Platz im Herzen der Stadt geriet zum "Dorf der Erneuerung“, zwei Jahre lang, in den Jahren 2019 und 2020. Doch dann kam der Rückschlag. Die Protestbewegung wurde mit allen Mitteln bekämpft, über 600 Demonstranten ermordet, viele andere gekidnappt und bedroht.
Der Protest verstummte, seine Ziele hatte er nicht erreicht. "Trotzdem kannst du als Jugendlicher jetzt dein Leben leben wie du willst, ohne dass dir jemand reinredet“, sagt Shirwan, Mohammeds 22-jähriger Sohn. Fast die Hälfte der 43 Millionen Einwohner Iraks ist nach dem Sturz Saddams geboren. Sie kennen den Diktator nur vom Hörensagen. "Die gesellschaftlichen Veränderungen und Freiheiten werden bleiben“, ist sich Shirwan sicher. Autoritäten hätten im Zuge der Proteste an Gewicht verloren. Er könne jetzt mit einem Mädchen Hand in Hand am Tigrisufer spazieren gehen, was früher undenkbar war.
Mitverantwortlich für die brutale Niederschlagung der Proteste im Irak sei der Iran, so hört man überall von Basra bis Bagdad. Die dem Nachbarland verbundenen Milizen haben gut ausgebildete Scharfschützen und den Auftrag, den Einfluss des Iran im Irak auf keinen Fall zu gefährden. Und dieser Einfluss ist enorm. Ohne Iran läuft im Irak gar nichts.
Teheran sitzt in Bagdad mit am Kabinettstisch, bestimmt, wer an die Regierung kommt. Ohne die Zustimmung Irans kommt kein Präsident ins Amt, wird kein Premierminister vereidigt. Während der Einfluss des Nachbarlandes unter Saddam Hussein verschwindend gering war, ist er seit der US-amerikanischen Besatzung riesig. Nach dem Abzug der US-Truppen 2011 füllte der Iran blitzschnell das entstandene Vakuum auf allen Ebenen. Die USA haben die Tür geöffnet und die Iraner sind durch sie hindurchgegangen. Sie wieder loszuwerden ist eine ungeheure Herausforderung.
Basra – die vernachlässigte Ölmetropole
"Es war ein Riesenfest“, jubelt Suhad Abdel Razzaq, als sie vom Fußballcup der Golfstaaten im Januar 2023 in Basra erzählt. Nicht nur, weil der Irak den Cup gewann, sondern vor allem weil die FIFA zum ersten Mal seit dem Sturz Saddam Husseins vor 20 Jahren zustimmte, ein internationales Turnier im Irak stattfinden zu lassen. "Die ganze Welt war bei uns“, sagt Suhad überschwänglich. So wie früher, als die Bewohner der Golfstaaten am Wochenende nach Basra kamen, um sich zu vergnügen.
Bars, Restaurants, schicke Hotels, Nachtclubs: Basra hatte all das, was es bei den Anderen noch nicht gab. Dann überfiel Saddam Hussein 1990 Kuwait und alles war vorbei. Wie keine andere Stadt im Irak litt Basra unter den drei Golfkriegen. Zunächst unter dem Krieg gegen Iran, als jeder Meter am Shatt al-Arab, der Nahtstelle zwischen beiden Ländern, blutig umkämpft wurde.
Dann 1991, als eine von den Amerikanern und Präsident George Bush Senior angeführte Koalition die Iraker aus Kuwait vertrieb und schließlich 2003, als Bush Junior einmarschieren ließ und Saddam Hussein stürzte.
Suhad wurde 1975 in Kuwait geboren. Ihr Vater arbeitete dort als Journalist. Als der zweite Golfkrieg begann, kehrte die Familie nach Basra zurück. "Plötzlich waren Iraker und Kuwaiter Feinde“, kommentiert Abdel Razzaq die Situation traurig. Basra wurde zum Armenhaus Iraks. Noch immer hinkt Basra in seiner Entwicklung den anderen Landesteilen hinterher. Wasser, Strom und Infrastruktur sind noch unzureichend. Damit endlich etwas passiert, sind 2018 in Basra Tausende auf die Straße gegangen.
Sie hatten es satt, das Armenhaus des Landes zu bleiben, mit Wellblechhütten, Abwasserseen am Straßenrand, Müllbergen, die sich türmten und im Sommer zum Himmel stanken. Die Protestler zündeten das Provinzratsgebäude an, die Büros der Parteien, den Gouverneurspalast. Endlich sollten die Petro-Dollars, die Stadt und Provinz durch den Verkauf von Öl bekommen, auch bei den Menschen ankommen und nicht nur in den Taschen der Politiker landen.
Die Region um Basra verfügt über die größten Ölreserven des Landes. Über zwei Millionen Fass werden hier pro Tag gefördert. Der neue Gouverneur, so versichern die Menschen in Basra, sei zwar auch korrupt, stecke aber nur die Hälfte dessen in die Tasche, was sein Vorgänger abgezweigt hat.
Immerhin werden jetzt Straßen repariert und neu geteert, eine Brücke über den Schatt al-Arab entsteht, neue Häuser schießen wie Pilze aus dem Boden, auch Fünf-Sterne-Hotels, der Müll wird abgeholt. "Basra wird global“, meint Suhad Abdel Razzaq zuversichtlich in die Zukunft blickend. Als Hafenstadt habe Basra das Potential dazu. Und ein weiteres internationales Fußballereignis würde dabei helfen.
Kurdistan – die gefährdete Vorzeigeregion
Erbil, die Kurdenmetropole im Nordirak, ist nicht wiederzuerkennen. Zehn Jahre lang herrschte hier ein Bauboom ohne Beispiel. Unzählige neue Stadtviertel entstanden, Hochhäuser ragen in den Himmel. Während der Terror im Rest des Landes wütete, waren die kurdischen Autonomiegebiete ein sicherer Hafen. Internationale Organisationen siedelten sich hier an, Geschäftsleute aus Bagdad und Basra eröffneten Büros.
Irak-Kurdistan verzeichnete die höchsten Direktinvestitionen der Region. „Die Kurden haben enorm gelitten unter Saddam“, sagt Bebak Dawdi, Masterstudent im Fach Internationale Beziehungen in Erbil. "Als er weg war, war die Euphorie groß.“ Die kurdischen Politiker rückten zusammen und wollten die Region aufbauen. Ein kleines Dubai sollte in Kurdistan entstehen. "Die Stimmung war sehr optimistisch. Es lief gut, politisch und wirtschaftlich.“
Doch die Entwicklung in die Moderne ging zu schnell, sagt Nihad Qoja, der damals Oberbürgermeister der Stadt Erbil war und zuvor über 20 Jahre in Bonn gelebt hat. Die Menschen hätten den rasanten Sprung mental nicht verkraftet. 2013 dann platzte die Immobilienblase und die Baukräne standen still. Ein Jahr später wütete der IS. Zwar blieben die vier Kurdenprovinzen von den brutalen Dschihadisten verschont, aber Tausende Flüchtlinge strömten nach Irak-Kurdistan, um Zuflucht zu suchen. Für die im Umbruch befindliche Region war das eine enorme Belastung.
Nachdem der IS vertrieben war und die Flüchtlingslager nach und nach aufgelöst wurden, glaubte Kurdenpräsident Masoud Barzani, dass es an der Zeit sei, einen eigenen Kurdenstaat auszurufen. Ohne Absprache mit den Nachbarstaaten ließ er 2017 ein Referendum abhalten, in dem die gut sechs Millionen Kurden abstimmen konnten, ob sie für oder gegen einen eigenständigen Staat seien.
Über 90 Prozent sprachen sich dafür aus. Doch Barzani hatte die Rechnung ohne Iran, die Türkei, Syrien und die Zentralregierung in Bagdad gemacht, die alle vehement gegen das Referendum protestierten. Auch die Amerikaner, stramme Verbündete der Kurden, hielten den Schritt Barzanis zu jenem Zeitpunkt für unrealistisch und gefährlich. Mittlerweile ist Masoud Barzani zurückgetreten, die wirtschaftliche Krise hat sich verschärft und ein Streit mit Bagdad blockiert derzeit jede weitere Entwicklung.
Seit 2013 seien keine Universitätsabsolventen mehr in den Staatsdienst übernommen worden in Kurdistan, was früher ständig der Fall gewesen sei, sagt Masterstudent Dawdi. Die besten eines jeden Jahrgangs konnten im öffentlichen Dienst unterkommen. "Das ist jetzt vorbei.“ Viele Studenten würden jetzt nach ihrem Abschluss ins Ausland gehen. Tausende haben Kurdistan bereits verlassen. Die einstige Vorzeigeregion steckt in der Krise.
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