Die große Abrechnung

Die Kurden werden von zwei Seiten angegriffen: aus der Türkei und aus dem Iran. In ihren Gebieten im Norden des Irak wird die Lage immer verzweifelter. Von Birgit Svensson aus Erbil

Von Birgit Svensson

Wer hätte je gedacht, dass die irakische Hauptstadt Bagdad einmal sicherer sein würde als die Kurdenmetropole Erbil? Doch im Moment ist das so. Dabei galten die drei kurdischen Provinzen Erbil, Suleimanija und Dohuk im Nordirak als sicherer Hafen im Meer des Terrors, der den Rest des Landes erfasst hatte. Erbil war auf der Sicherheitskarte grün, Bagdad rot.

Die kurdische Regionalregierung tat alles, um den Terror außen vor zu lassen. Strenge Kontrollen an den Landgrenzen zu den Autonomiegebieten und am Flughafen haben lange vor Bomben und Sprengsätzen geschützt. Der Stolz der Kurden galt vor allem ihren Sicherheitskräften.



Die Peschmerga wurden zum Symbol für Kurdistan. Unzählige Militärberater aus aller Welt bildeten die ehemaligen kurdischen Freiheitskämpfer zu Anti-Terror-Kämpfern aus, rüsteten sie zum Kampf gegen die Dschihadisten des IS, der bis 2017 im Nordirak sein Unwesen trieb und immer noch Schläferzellen dort unterhält. Doch gegen konventionelle Armeen wie die der Türkei und des Iran sind die Peschmerga machtlos.

Seit Wochen sind die kurdischen Gebiete im Nordirak Angriffsziel sowohl des Nachbarn Türkei als auch Irans. Während die türkische Armee schon seit Jahren Angriffe auf Stellungen der türkisch-kurdischen Arbeiterpartei PKK im Irak fliegt, greift der Iran erst seit dem Ausbruch der Proteste im September auch im Nordirak massiv an.



Neu ist, dass jetzt beide Länder gleichzeitig Luftangriffe durchführen. "Abrechnung“ geben sie als Grund an: Abrechnung mit ihren Kurden, die im Iran die Proteste entfachen und in der Türkei Anschläge verüben sollen. Abrechnung aber auch mit den irakischen Kurden, die ihnen Unterschlupf gewähren.

Kein Durchkommen nach Sinjar

Etwa 50 Kilometer vor Sinjar ist die Reise zu Ende. "Sie dürfen hier nicht weiter“, stellt sich ein robuster Soldat in Uniform der irakischen Armee der Reporterin in den Weg. Hinter ihm steht ein kleinerer, rundlicher Mann in zivil und nickt: "Befehl aus Bagdad“, sagt er wichtig, "Ausländer dürfen nicht nach Sinjar, es ist zu gefährlich“. Geheimdienst und Armee kontrollieren hier gemeinsam den Checkpoint auf der Hauptstraße von der Kurdenmetropole Erbil in den äußersten Nordwesten Iraks.

Zerstörung im nordirakischen Erbil nach einem Angriff der iranischen Revolutionsgarden Ende September  (Fariq Faraj/AA/picture alliance) 
Zerstörung in Erbil nach einem iranischen Angriff: Zeitgleich mit den türkischen Raketen feuert Iran mittels Drohnen auf Stützpunkte der iranisch-kurdischen Oppositionsgruppen in Irak-Kurdistan. Sie werden von einem Stützpunkt der iranischen Revolutionsgarden, der Hamza Sayyid al-Shuhada Militärbasis, im kurdischen Teil Irans auf den Nachbarn Irak abgeschossen. Die Eliteeinheit der iranischen Streitkräfte, die direkt dem obersten Führer des Landes, Ajatollah Ali Chamenei, untersteht, spricht in einer Erklärung von "separatistischen anti-iranischen Terrorgruppen“, die derzeit angegriffen werden und in den irakisch-kurdischen Provinzen Erbil und Suleimanija Unterschlupf gefunden hätten.



Der Fahrer meint Raketendonner im Hintergrund zu hören. Die Jesidenstadt Sinjar wird angegriffen. Wir kehren um und fahren auf direktem Weg nach Mossul. Dort erfahren wir, dass ein Luftangriff der türkischen Armee auf Stellungen der kurdischen PKK und deren syrischer Tochter YPG in vollem Gang sei. Türkische Raketen fallen auf die kurdisch kontrollierten Gebiete in Nordsyrien, auf die Grenzregion zum Irak im Süden der Türkei, auf die Qandil-Berge im Osten der irakisch-kurdischen Autonomieprovinz Suleimanija und auf Sinjar im Westen Iraks, Richtung syrischer Grenze.

Die Operation "Klauenschwert“ hat begonnen. Das amerikanische Generalkonsulat in Erbil verschickt Warnungen an seine Landsleute, den Nordirak zu meiden oder von dort abzureisen. Auf dem Weg zur Fußballweltmeisterschaft in Katar kündigt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan an, er werde auch vor der Entsendung von Bodentruppen nicht zurückschrecken.

Die Luftangriffe folgen wenige Tage nach der Bombenexplosion in Istanbul, für die Ankara die YPG und die PKK verantwortlich macht. Die Ermittlungen laufen, bisher wurden insgesamt 50 Personen verhaftet. Die beiden Kurdenorganisationen, die Erdogan als Terroristen bezeichnet, streiten eine Beteiligung ab und unterstellen der Türkei, mit der Anschuldigung einen Vorwand für einen Militäreinsatz in Nordsyrien geschaffen zu haben.

Diesen Vorwand braucht die Türkei für den Irak nicht. Türkische Soldaten stehen schon lange auf irakischem Territorium. Im Norden an der Grenze zur Türkei, in Zakho und 30 Kilometer vor Mossul, in Bashika. Schätzungen gehen von 3.000 türkischen Soldaten aus, stationiert in Zeiten des IS-Kalifats mit dem Argument gegen die Terrormiliz kämpfen zu wollen, um türkischstämmige Turkmenen zu beschützen.

Tatsächlich aber, so berichten es Anwohner, gelte die Anwesenheit der türkischen Armee den von ihnen gehassten kurdischen Gruppen, die Unterschlupf in Irak-Kurdistan gefunden haben. Die PKK unterhält Stellungen in den Qandil-Bergen im Osten und in Machmur, südlich von Erbil, die YPG in Sinjar.

 

 



Setzt Iran Bodentruppen ein?

Zeitgleich mit den türkischen Raketen feuert Iran mithilfe von Drohnen auf Stützpunkte der iranisch-kurdischen Oppositionsgruppen in Irak-Kurdistan. Sie werden von einem Stützpunkt der iranischen Revolutionsgarden, der Hamza Sayyid al-Shuhada Militärbasis, im kurdischen Teil Irans auf den Nachbarn Irak abgeschossen.

Die Eliteeinheit der iranischen Streitkräfte, die direkt dem obersten Führer des Landes, Ajatollah Ali Chamenei, untersteht, spricht in einer Erklärung von "separatistischen anti-iranischen Terrorgruppen“, die derzeit angegriffen werden und in den irakisch-kurdischen Provinzen Erbil und Suleimanija Unterschlupf gefunden hätten. Der Bürgermeister der Stadt Koya in der Provinz Erbil sagt dem kurdischen Fernsehsender Rudaw, dass nicht nur das Büro der Kurdischen Demokratischen Partei Irans das Angriffsziel sei, sondern auch ein Camp, das Geflüchtete aus den iranisch-kurdischen Gebieten beherbergt.

Die Ayatollahs werfen den Exilgruppen im Nordirak vor, die landesweiten Proteste gegen die Regierung und das islamische Herrschaftssystem im Iran zu schüren. Irakisch-kurdische Organisationen unterstützen die seit dem Tod der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini Mitte September anhaltenden Proteste im Iran und prangern die massive Gewalt gegen Protestierende an.

Beobachter in Erbil sind sich uneins, ob die Unterstützung über die Gewährung von Unterschlupf für die iranischen Kurden hinausgeht oder ob auch Waffen und technische Geräte für den Widerstand über die Grenze geschmuggelt werden. Jetzt gibt es Berichte, wonach Iran Truppen an der Grenze zum Irak zusammengezogen hat. Erwägt Iran, Bodentruppen im Irak einzusetzen? "Wir Kurden haben Angst“, sagt der ehemalige Oberbürgermeister der Stadt Erbil, Nihad Qoja, "keiner weiß, wohin das führen wird“.

Eine weibliche kurdische Pschmerga gibt beim Referendum ihre Stimme ab; Foto: Getty Images/AFP/S. Hamed
Denkzettel für die Kurden? Als Masoud Barzani, der ehemalige Kurdenpräsident, 2017 eine Volksbefragung über ein unabhängiges Kurdistan abhalten ließ, warnten ihn nicht wenige vor seinen Nachbarn. Iran und die Türkei würden nie einen kurdischen Staat vor ihrer Haustür akzeptieren. Doch Barzani erhielt über 90 Prozent Zustimmung bei hoher Wahlbeteiligung. Sein Ziel war nicht nur, aus den bestehenden Autonomiegebieten einen unabhängigen Staat zu machen. Er wollte, dass Gebiete, die bis dahin unter der Verwaltung von Bagdad standen, ebenfalls zum neuen Staat gehören, wie die mittlerweile unter kurdischer Verwaltung stehende Region in Nordsyrien, Rojava genannt.

"Kurdayati" als Identität

Dass die kurdischen Autonomiegebiete lange Zeit von Gewalt und Extremismus verschont blieben, die im übrigen Land über Jahre hinweg dominierten – erst mit Al Qaida, dann dem IS – liege daran, dass für die Kurden stets die Ethnie im Mittelpunkt ihrer Identität stand und nicht die Religion.

Wie das in Erbil ansässige Middle East Research Institute (MERI), ein inzwischen international anerkannter Think Tank, in einer Ende Oktober veröffentlichten Studie aufzeigt, ist "Kurdayati“, das "Kurdischsein", ausschlaggebend dafür, dass es nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 in den Kurdengebieten weitgehend ruhig blieb. Diese kurdische Identität habe den religiös motivierten Extremismus und die Gewalt in Schranken gehalten. Nur 530 junge Kurden hätten sich den extremistischen Dschihadisten des IS angeschlossen, so MERI. "Kurden wollten nicht gegen Kurden kämpfen.“

Doch nun scheint gerade das "Kurdayati“ zum Stolperstein zu werden. Die irakischen Kurden bekommen jetzt vorgeführt, was immer im Raum stand, aber vor allem in Erbil nie für bare Münze genommen wurde. Als Masoud Barzani, der ehemalige Kurdenpräsident, 2017 eine Volksbefragung über ein unabhängiges Kurdistan abhalten ließ, warnten ihn nicht wenige vor seinen Nachbarn. Iran und die Türkei würden nie einen kurdischen Staat vor ihrer Haustür akzeptieren, hieß es.

Doch Barzani ließ die Kurden abstimmen und erhielt über 90 Prozent Zustimmung bei hoher Wahlbeteiligung. Sein Ziel war nicht nur, aus den bestehenden Autonomiegebieten einen unabhängigen Staat zu machen. Er wollte mehr. Gebiete, die bis dahin unter der Verwaltung von Bagdad standen, sollten ebenfalls zum neuen Staat gehören, wie die mittlerweile unter kurdischer Verwaltung stehende Region in Nordsyrien, Rojava genannt.

Daraus wurde dann nichts, der Widerstand war zu groß. Selbst die Amerikaner, traditionell mit den Kurden im Nordirak verbündet, lehnten ein vom Rest Iraks losgelöstes Kurdistan ab. Man kann die jetzige Militäroperation der beiden Nachbarn deshalb auch als einen Denkzettel für die irakischen Kurden begreifen, einen Fingerzeig, was geschehen könnte, wenn sie vom eigenen Staat träumen.

Birgit Svensson

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