Droht der offene Konflikt zwischen Justiz und Regierung?
In Israel wurde am 24. Juli mit der Verabschiedung einer Novelle zum "Grundgesetz über die Gerichtsbarkeit“ der erste Schritt der beabsichtigten "Justizreform“ vollzogen. Das von der rechtsreligiösen Regierung Netanjahu damit abgeschaffte Angemessenheitskriterium war, anders als bisweilen dargestellt, keine "Klausel“ und nie in einem Gesetzestext verankert. Die Anwendung des Kriteriums – es ist auf Regierungshandlungen beschränkt – hat sich vielmehr aus dem britischen Recht entwickelt, an dem sich die israelische Rechtsordnung orientiert.
Die Novelle betrifft, was meist übersehen wird, nicht nur das Oberste Gericht des Landes, sondern sämtliche Gerichte wie auch alle sonstigen Instanzen, die "gerichtliche Autorität“ besitzen. Ihnen soll es nun untersagt sein, unter Anwendung des Angemessenheitskriteriums über eine "Entscheidung der Regierung, des Ministerpräsidenten oder irgendeines anderen Ministers“ zu befinden.
Auffälligerweise werden im novellierten Gesetzestext als Beispiele lediglich "Ernennungen“ und die "Entscheidung, jedwede Befugnis nicht auszuüben“ genannt. Aus der Sicht von Margit Cohn, Rechtsprofessorin an der Hebräischen Universität in Jerusalem und Befürworterin des Angemessenheitskriteriums, geht es der Regierung nicht primär um dieses Veto-Instrument, das ohnehin nur in extremen Fällen Anwendung fand.
"Unangemessene" Ernennungen
Mit der Fokussierung auf "Ernennungen“ solle künftig verhindert werden, dass sich Fälle wie die Nominierung des vorbestraften ultraorthodoxen Schas-Politikers Arje Deri zum Minister wiederholen.
Dessen Ernennung zum Innen- und Gesundheitsminister war im Januar vom Obersten Gericht als "unangemessen“ kassiert worden, weil Deri mit der Annahme des Amtes gegen die Auflagen eines gerichtlichen Vergleichs in einem Verfahren wegen Steuerhinterziehung verstoßen hatte – er bekam Bewährung gegen die Verpflichtung, aus der Politik auszusteigen. Unter der neuen Rechtslage würde es schwieriger werden, solche fragwürdigen Ernennungen zu verhindern.
Margit Cohn zufolge hat der explizite Bezug in der Gesetzesnovelle auf die "Entscheidung, jedwede Befugnis nicht auszuüben“ vor allem eines zum Ziel: Justizminister Yariv Levin soll damit ermöglicht werden, die schon seit Monaten überfällige, ihm obliegende Berufung der Richterwahlkommission solange hinauszuschieben, bis ein geplantes Gesetz zur Neuregelung ihrer Zusammensetzung verabschiedet ist – damit würde die Regierungskoalition entscheidenden Einfluss auf die Ernennung der Richter nehmen.
Dies sei, hebt Margit Cohn hervor, nur ein Baustein eines umfassenden gesetzgeberischen Plans. Ihre Sorge, dass dieser Plan einer Staatsform zwischen Autokratie und Theokratie den Weg ebnen würde, teilen viele im Land.
Machtverschiebung zugunsten der Exekutive
Die auch in der israelischen Öffentlichkeit diskutierte Frage, ob die sukzessive Entmachtung der Justiz in Polen und Ungarn der Regierung Netanjahu als Vorbild dient, trägt kaum zum besseren Verständnis der alarmierenden Vorgänge in Israel bei. Dort wird nämlich schon seit Jahrzehnten über die Rolle des Obersten Gerichts, die Richterwahl und das Angemessenheitskriterium debattiert.
Letzteres brandmarken die Fürsprecher der "Justizreform“ als überflüssige Bremse und beharren darauf, dass es bei weitem nicht das einzige Instrument richterlicher Kontrolle sei – es gebe auch noch die Kriterien Rechtswidrigkeit, Verhältnismäßigkeit, fehlende Rationalität, verfahrensmäßige Unangemessenheit, sachfremde Erwägung, Willkür und Diskriminierung.
Ihr Argument, es könne deshalb von einem intendierten "Staatsumbau“ – davor wird seit Monaten bei den Massenprotesten gewarnt – keine Rede sein, ist nicht ganz von der Hand zu weisen.
Tatsächlich betrifft die jüngste Novelle, da auf administrative Akte beschränkt, nicht die Staatsordnung an sich. Langfristig kann sie zwar das Gleichgewicht der Macht zwischen Exekutive und Judikative zugunsten ersterer verschieben, mehr aber auch nicht.
Einen präzedenzlosen Eingriff in die Struktur der Gewaltenteilung stellt hingegen der Versuch der Legislative dar, die Vollmachten der sie kontrollierenden Justiz zu beschneiden – mangels einer Verfassung oder einer zweiten Parlamentskammer ist sie in Israels politischem System wohlgemerkt der einzige Kontrollmechanismus.
Regierung gegen Oberstes Gericht
Zu diesem Tabubruch muss nun das Oberste Gericht im Rahmen von mehreren eingereichten Klagen Stellung beziehen und zwangsläufig auch erstmals den eigenen Status verteidigen – solange es dies noch darf: Ein im Februar in erster Lesung passiertes Gesetz würde nach Verabschiedung den Oberrichtern verbieten, Grundgesetze inklusive Änderungen zu annullieren.
Die Kläger gegen die neue Novelle haben, da sie ein gesetzgeberischer und nicht ein administrativer Akt ist, deutlich weniger Argumente zur Verfügung als im Falle von Regierungshandlungen.
Als Klagegründe kommen vor allem in Frage: Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit des jüdischen und demokratischen Staates Israel (Verfassungswidrigkeit), Machtmissbrauch der Legislative oder auch Unstimmigkeiten im Gesetzgebungsverfahren. Unter erstmaliger Beteiligung all seiner fünfzehn Mitglieder wird sich das Oberste Gericht am 12. September mit der Materie befassen.
Dass das Oberste Gericht grundsätzlich bereit ist, gegen ein novelliertes Grundgesetz vorzugehen, hat sich mittlerweile an einem anderen Fall gezeigt. Dem "Gesetz über die Regierung“ war im März ein Paragraph hinzugefügt worden, der die Amtsenthebung des Ministerpräsidenten nur wegen psychischer oder anderer Gesundheitsgründe erlaubt.
Es war wohl die Antwort darauf, dass Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara Ministerpräsident Netanjahu von der Mitwirkung an der Justizreform ausgeschlossen hatte, weil er wegen seines Korruptionsverfahrens in einen Interessenkonflikt geraten könnte. Das neue Gesetz verhindert nun, dass er bei Verstoß gegen diesen Ausschluss für amtsunfähig erklärt werden kann.
Kläger gegen die Novelle argumentierten, dass hier ein persönliches Interesse Netanjahus bestehe. Ihren Forderungen kam das Oberste Gericht am 6. August in zwei Punkten nach: Es hat eine einstweilige Verfügung gegen die Implementierung der Novelle erlassen und fordert den Staat auf, zu begründen, weshalb das Gesetz schon jetzt und nicht erst ab der nächsten Legislaturperiode in Kraft treten soll.
Damit droht nun der befürchtete Konflikt zwischen Justiz und Regierung offen auszubrechen. Denn die Koalitionsparteien haben umgehend erklärt, dass die Oberrichter zu einer solchen Entscheidung nicht befugt seien. Über den Fall der Amtsenthebung will das Oberste Gericht erst Ende September befinden. Spätestens jedoch nach der Anhörung in Sachen Angemessenheitskriterium am 12. September wird sich zeigen, wie gefährdet Israels demokratisches System wirklich ist.
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