Ein gigantisches Puzzle

Es wird Jahre dauern, bis das des Antikenmuseums von Mosul wieder geöffnet wird. Lena Bopp hat herausgefunden, wie die Restauratoren die vom Islamischen Staat verursachten Schäden beheben.
Es wird Jahre dauern, bis das des Antikenmuseums von Mosul wieder geöffnet wird. Lena Bopp hat herausgefunden, wie die Restauratoren die vom Islamischen Staat verursachten Schäden beheben.

Bis zur Wiedereröffnung des Antikenmuseums in Mossul ist es ein langer Weg: Wie Restauratoren die Schäden beheben, die der IS angerichtet hat. Von Lena Bopp

Von Lena Bopp

Ist das machbar oder nicht? Das war die Frage, die Daniel Ibled sich stellte, als er zum ersten Mal nach Mossul kam, vier Jahre nachdem die Kämpfer des „Islamischen Staates“ (IS) die nordirakische Stadt und sein Museum dem Erdboden gleich gemacht hatten. Sie seien, erinnert er sich, im Inneren des Museums über eine zehn Zentimeter dicke Staubschicht gelaufen. Über die Überreste dessen, was früher die Schätze des Hauses waren: 25.000 Bücher aus der Bibliothek, die vermutlich infolge der gewaltigen Explosion in Flammen aufgegangen war, mit der IS-Kämpfer den jahrtausendealten assyrischen Sockel eines Throns in die Luft gejagt hatten.

Zu Schutt und Staub waren auch ein assyrischer Löwe und zwei Lamassu zerfallen, mythische Wesen mit Menschenköpfen, den Flügeln eines Adlers und Körpern eines Stiers. Die Zerstörung der Statuen aus Hatra, die sie erst von ihren Sockeln stießen und dann mit Presslufthammern zerlegten, hatten die IS-Anhänger dokumentiert. Das berüchtigte Video ging im Februar 2015 um die Welt.

Ibled war mit der Erfahrung eines Mannes in das Museum gekommen, der als Sechsjähriger Vergnügen darin fand, die Schalen von geknackten Nüssen wieder zusammenzusetzen, der in Afghanistan bei der Restaurierung von durch die Taliban zerstörten Artefakten half und nun an einem Projekt arbeitet, das seine Chefin Ariane Thomas, die Leiterin der Abteilung für orientalische Antiquitäten im Louvre, als ein „Albtraum-Puzzle“ bezeichnet: Daniel Ibled und sein Team setzen die Überreste der vom IS im Museum von Mossul zerstörten Schätze wieder zusammen.

Seit bald zwei Jahren versuchen sie, aus Abertausenden von Teilen die jeweils zueinander passenden zu finden. Manche sind nach wie vor groß und wiegen zwanzig Kilogramm, obwohl die Kämpfer des IS alles getan haben, um sie möglichst kleinzukriegen. Andere sind so klein wie ein halber Fingernagel. Sie alle lagen kreuz und quer in den hinteren Sälen des Museums, die zu säubern allein ein Jahr dauerte. Erst legten die Restauratoren aus Frankreich ein Karomuster über den Boden, dann verstauten sie jedes einzelne Karo in einer Kiste.

Ausschnitt aus einem vom Islamischen Staat im Jahr 2015 veröffentlichten Video, das die Zerstörung von Antiquitäten in Mosul zeigt (Foto: AFP)
Ausschnitt aus einem vom Islamischen Staat im Jahr 2015 veröffentlichten Video, das die Zerstörung von Antiquitäten in Mosul zeigt (Foto: AFP)

Die innere Logik der Explosion

Mittlerweile sind viele Einzelteile sortiert, nummeriert und zugeordnet, sie liegen auf Holzpaletten in den wieder Ordnung ausstrahlenden Räumen des Museums. Große Teile des auf seiner Unter- und Oberseite mit Keilschrift versehenen Sockels, auf dem im 9. vorchristlichen Jahrhundert der Thron des assyrischen Herrschers Assurnasirpal II. gestanden haben soll, werden von Gummibändern zusammengehalten. Sie tragen Narben aus Klebstoff. „Jede Explosion hat eine innere Logik“, sagt Ibled.

Wenn es gelinge, sie zu verstehen, könne man die Explosion quasi rückwärts denken und die Puzzleteile leichter finden. Danach sei Perfektionismus gefragt. Wenn man sich am Anfang um nur einen Millimeter vertue, summiere sich der Fehler mit jedem weiteren Schritt, bis man am Ende in eine Schieflage kommt, die es unmöglich mache, weitere Steine hinzuzufügen. „Da mussten wir die irakischen Kollegen am Anfang manchmal bremsen.“

Seit zwei Jahren reisen im Wechsel acht Mitarbeiter des Louvre aus Paris für ein paar Wochen nach Mossul und bringen den irakischen Restauratoren langsam bei, was sie wissen müssen. Diese Ausbildung gehört zu der Vereinbarung, die vom Louvre, dem World Monuments Fund, der Smithsonian Institution und dem irakischen Amt für Altertümer zum Wiederaufbau des Museums geschlossen worden ist.

Blick auf die berühmte Nuri-Moschee in Mosul, die vom Islamischen Staat zerstört wurde (Foto: Philipp Breu)
Die Vernichtung von Kulturerbe, das nicht dem puritanisch-wahhabitisch geprägten architektonischen Selbstverständnis der IS-Terrormiliz entspricht, war eine konstante Begleiterscheinung ihrer Schreckensherrschaft. Dieses Foto zeigt den Standort der al-Nuri-Moschee im Herzen der Altstadt von Mossul, wo IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi (1971-2019) sein Kalifat ausrief. Der IS sprengte das berühmte Minarett kurz vor seiner Niederlage.

Die Pläne sind fertig, das Geld ist da – bereitgestellt von Aliph, einer Organisation, die 2018 auf Initiative Frankreichs hin entstand, das seine diplomatischen Kontakte in der Region geschickt nutzt. Aliph wird größtenteils von Frankreich, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten finanziert – zuletzt kamen 90 Millionen Euro für fünf Jahre zusammen. Es versteht sich als schnelle Einsatztruppe, die sich unbürokratisch der Rettung von bedrohtem Kulturerbe in Krisengebieten verschrieben hat. Derzeit vor allem in der Ukraine und im Irak.

Allein in Irak unterstützt Aliph mit 30 Millionen Dollar rund vierzig Projekte, von denen der Wiederaufbau des Museums in Mossul das größte, aber nicht das einzige in der Stadt ist. Der „Islamische Staat“ hat mehrere Dutzend historische Stätten und religiöse Bauten in und um Mossul zerstört – Klöster, Kirchen, Tempel und auch Moscheen wie jene auf dem Tell Nabi Yunus über dem Grab des biblischen Propheten Jona.

Schnelle Eingreiftruppe für das Kulturerbe

Unter der Moschee, das wusste auch der „Islamische Staat“, vermuteten Archäologen schon lange einen großen Palast aus dem assyrischen Reich. Um die Schätze dieses Palastes zu heben und auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, gruben die IS-Anhänger kreuz und quer verlaufende lange Tunnel durch die Erde. Bittere Ironie: Seit der IS vertrieben ist, haben auch deutsche Archäologen genau diese Tunnel benutzt, um den jahrtausendealten Palast endlich zu erforschen. Sein Thronsaal, meterhohe Torwächterfiguren und Königsinschriften wurden entdeckt.

Über die Ausgrabungen, die Zerstörung und die Pläne für den Wiederaufbau informiert nun eine kleine Ausstellung im Museum, das seine Türen für die Öffentlichkeit zu diesem Zweck geöffnet hat – zum ersten Mal seit zwanzig Jahren. Denn das Museum war schon 2003 geschlossen worden, als die amerikanische Invasion begann. Alle beweglichen Kunstschätze hatte man damals nach Bagdad und vermeintlich in Sicherheit gebracht, nicht ahnend, dass auch das dortige „Iraq Museum“ rasch und gezielt geplündert werden sollte. Erst zehn Jahre später wollte man das Museum in Mossul wieder öffnen, aber bevor es so weit kam, hatte der IS die Stadt und weite Teile ihrer Umgebung schon unter seine Kontrolle gebracht.

Loch im Boden der assyrischen Halle des Kulturmuseums in Mosul (Foto: Iraqi State Board of Antiquities and Heritage)
Bei seinem Abzug hinterließ der IS das Museum von Mossul in einem desolaten Zustand: Ein riesiges Loch klafft im Boden, wo der Sockel des assyrischen Throns im Kulturmuseum von Mosul vom IS gesprengt wurde. Auf Wunsch der Bewohner der Stadt soll das Erdloch als Erinnerung an diese dunklen Tage erhalten bleiben.

Nun sind in der kleinen Ausstellung viele Vorher-nachher-Fotos zu sehen. Es sind schockierende Bilder vom Nergal-Tor im alten Ninive, von Nimrud und der Altstadt Mossuls, von unschätzbaren Kulturerbestätten, die zum Teil unwiederbringlich verloren sind. Die Ausstellung dokumentiert aber auch den Willen, zu retten, was zu retten ist – ein Wille, der ins Auge springt, sobald man sich der Stadt nur nähert und bei der Fahrt über das leicht gewellte, karge Land kilometerlang an Tankstellen vorbeirollt, an Werkstätten, schweren Baugeräten, Schrotthändlern, Ersatzteilen und Reifen für die großen Lastwagen, die ohne Unterlass zwischen dem kurdischen Erbil und Mossul hin- und herdonnern.

Schon in drei Jahren soll das Museum wieder eröffnen. Das Gebäude ist von Granaten, Feuer und Sprengstoffexplosionen schwer gezeichnet. Von den schwarz verkohlten Decken hängen noch immer verbogene Aluminiumstreben und an der Stelle im Boden, an der der Sockel des Throns gesprengt worden ist, klafft ein gewaltiges Loch. Nach dem Wunsch der Bewohner der Stadt, die in einem „community outreach“ befragt worden sind, soll das Loch als Erinnerung an die dunklen Zeiten bleiben. Zugleich entschied man, die dem Haus von seinem Architekten Mohamed Makiya ursprünglich zugedachte Helligkeit zurückzugeben und etwa die Fassade wieder zu verglasen, die im Laufe der Jahrzehnte wohl aus verschiedenen Sicherheitsgründen immer weiter zugemauert worden ist. Auf diese Weise kommt auch die Moderne zu ihrem Recht, was insofern bemerkenswert ist, als das architektonische Erbe dieser vergleichsweise jungen Epoche in der arabischen Welt häufig einen schweren Stand hat.

Verkauft auf dem Schwarzmarkt

Und was wird in dem Haus dann zu sehen sein? Viel haben die Anhänger des „Islamischen Staates“ nicht übrig gelassen. Nur ein hölzerner Kenotaph mit koranischen Inschriften und eine zweiflügelige Tür aus dem 13. Jahrhundert nach Christus haben den Bildersturm einigermaßen überstanden. Alle aus vorislamischer Zeit stammenden Kunstschätze sind der fundamentalistischen IS-Ideologie, die keine anderen Kulturen neben sich, auch keine andere Geschichte als die ihre duldet, zum Opfer gefallen. Allerdings nur, wenn sie zu schwer zu transportieren waren. Die tragbaren Werke wurden vermutlich geplündert und auf dem Schwarzmarkt verkauft, um Geld in die Kriegskassen zu spülen.

Dass eines von diesen rund siebzig verschollenen Werken wieder auftaucht, wagt hier niemand zu hoffen. Allerdings hat Laith Majeed Hussein, der Leiter des staatlichen Amtes für Altertümer im Irak, nach eigenem Bekunden bereits angeordnet, dass alle Fundstücke aus den laufenden Ausgrabungen in Ninive ins Museum nach Mossul gebracht werden sollen. Zudem werde das Haus mit Artefakten aus den Depots in Bagdad bestückt. Dorthin sind vor zwei Jahren gut 17.000 überwiegend aus der sumerischen Zeit stammende Kulturgüter zurückgekehrt, restituiert von den Vereinigten Staaten. Kürzlich kamen außerdem mehr als 6000 archäologische Schätze aus London zurück in den Irak. Das British Museum hatte sie als Leihgaben erhalten – 1923. „Wir zeigen der Welt, dass wir es ernst meinen mit der Rückführung“, sagt Hussein.

Und auch Daniel Ibled ist zuversichtlich, dass seine Restauratoren den Sockel des Throns rechtzeitig zur Eröffnung zusammengesetzt haben werden. Auch die Unterseite des Löwen ist schon wieder gut erkennbar, obwohl sie noch ein ziemlich großes Loch in der Mitte des Bauches aufweist. „Genau dort war der Sprengstoff platziert“, sagt Ibled. Viele der Teile habe man aber wiedergefunden, sie seien geformt wie Scheiben von Toastbrot, die man nun eine neben der anderen einsetzen werde. Gibt es eigentlich keine 3-D-Maschine, irgendeine Künstliche Intelligenz, die bei dieser Arbeit helfen könnte? Vielleicht in zehn Jahren, meint Ibled, aber jetzt noch nicht. Noch benötigt man für so etwas ein menschliches Gehirn. Und ein Gemüt, das der Verbissenheit der Zerstörer eine Leichtigkeit entgegenzusetzen vermag, die über Momente der Mutlosigkeit hinweghilft. Man müsse es als Spiel begreifen, sagt Ibled. „Solange es ein Spiel ist, ist es machbar.“

Lena Bopp

© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2023