Idlib: Humanitäre Hilfe als Spielball Russlands
Der Grenzübergang Bab al-Hawa ist nicht irgendein Grenzübergang im Nordwesten Syriens. Monatlich rollen zwischen 600 und 800 LKWs von internationalen Organisationen aus der Türkei in die Region Idlib, um die Menschen dort mit Lebensmitteln, Medikamenten und vielem mehr zu versorgen. "Sollte Bab al-Hawa geschlossen werden, könnte das zu einer humanitären Katastrophe führen. Besonders die Menschen in den Flüchtlingslagern in dieser Region sind auf Hilfen angewiesen", sagt Huda Khayti, Leiterin des Frauenzentrums Idlib, am Telefon. Gemeinsam mit der Organisation Medico International unterstützt sie Binnenflüchtlinge in der Region im Bildungsbereich.
Schon die Zahlen zeigen, welche Bedeutung Bab al-Hawa für die Syrer im Nordwesten des Landes hat: Unterschiedlichen Schätzungen zufolge leben etwa vier Millionen Menschen in der Provinz Idlib, fast zwei Millionen von ihnen in Flüchtlingslagern. Viele sind schon mehrfach innerhalb Syriens geflohen, fast alle sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Allein im Flüchtlingslager Atmeh, das zehn Kilometer nördlich des Grenzübergangs liegt, leben etwa eine Million Menschen in notdürftigen Behausungen und Zelten. Dort gibt es weder fließendes Wasser noch genügend Strom, und aufgrund der schwierigen hygienischen Bedingungen breiten sich immer wieder Krankheiten aus.
Lebensader Bab al-Hawa
Viele nennen den Grenzübergang Bab al-Hawa eine Lebensader, doch diese könnte möglicherweise am 10. Juli gekappt werden. Denn dann wird im weit entfernten New York im UN-Weltsicherheitsrat über die Verlängerung für das Mandat verhandelt, das die Grundlage für Hilfslieferungen in der Region Idlib darstellt. 2014 hatte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschlossen, vier Grenzposten nach Nordwestsyrien zu öffnen. Man wollte die Menschen der letzten verbleibenden Rebellenhochburg in Syrien, die von der Al-Kaida-nahen islamistischen Gruppe Hayat Tahrir al-Scham (HTS) kontrolliert wird, mit dem Nötigsten versorgen.
Doch das Mandat muss immer wieder erneuert werden. Das syrische Regime unter Baschar al-Assad und sein engster Verbündeter Russland stellen sich zunehmend quer, da Assad seinen Einfluss auf die wenigen noch von Regierungsgegnern gehaltenen Gebiete ausweiten will. Russland kassierte deshalb als Vetomacht im mächtigsten UN-Gremium Grenzübergang für Grenzübergang ein. 2020 kam es schließlich zum mühsam errungenen Minimalkompromiss, nur noch den Grenzübergang Bab al-Hawa offen zu lassen. Jährlich muss seither neu darüber entschieden werden, ob der Übergang offenbleiben darf oder nicht.
Huda Khayti blickt jedes Jahr mit Sorge auf diesen Tag im Juli. "Über Bab al-Hawa werden auch schwer kranke Menschen in türkische Krankenhäuser gebracht. Wo sollen sie in Zukunft behandelt werden? Hier gibt es nicht mal Medikamente für Chemotherapien", sagt sie.
Bente Scheller, Leiterin des Nahost- und Nordafrika-Referats der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin, findet es problematisch, dass die grenzüberschreitende Hilfe beim Sicherheitsrat gelandet ist. "Russland kann so sein Veto nutzen, um das Vorenthalten von humanitärer Hilfe als zusätzliche Waffe gegen die syrische Bevölkerung einzusetzen."
Als Schutzmacht Assads drängt Russland seit längerem darauf, alle Hilfe über die Hauptstadt Damaskus laufen zu lassen. Das Regime, so ist zu befürchten, würde dann mit hoher Wahrscheinlichkeit nur noch Assad-treuen Bevölkerungsgruppen Hilfe zukommen lassen und erhielte durch die Schließung Bab al-Hawas ein weiteres Druckmittel gegen die Bevölkerung Idlibs. Zudem würde der Legitimitätsanspruch von Assad und seinem Regime weiter gestärkt. "Assad instrumentalisiert humanitäre Hilfe für politische Zwecke", sagt Anita Starosta, Syrien-Referentin der Organisation Medico International.
Auch Russland könnte versucht sein, den Grenzübergang Bab al-Hawa jetzt für zusätzliche politische Zwecke zu nutzen - als Faustpfand für seinen Angriffskrieg in der gut 1000 Kilometer entfernten Ukraine.
Humanitäre Hilfe als Druckmittel
Experten vermuten, dass Russland die Abstimmung am 10. Juli im UN-Sicherheitsrat dazu nutzen könnte, um Zugeständnisse bezüglich des Ukraine-Kriegs und seiner Auswirkungen zu erlangen. Die Vereinigten Staaten und die EU hatten im Zuge des russischen Krieges gegen die Ukraine eine Reihe von Sanktionen gegen Russland verhängt. Es sei durchaus möglich, dass Russland diesmal deshalb im Gegenzug keine weitere Verlängerung der grenzüberschreitenden Hilfe für Syrien zulassen werde, so Scheller. "Vielleicht bewahrt es sich dieses Druckmittel allerdings auch weiterhin auf."
Derweil will sich Russland nicht in die Karten schauen lassen. Der stellvertretende russische UN-Botschafter Dmitry Polyanskiy sagte, Moskau habe noch nicht entschieden, wie es abstimmen werde. "Ich bestreite nicht, dass es auch um Flüchtlinge geht, aber die Terrorgruppen - sie profitieren davon", sagte er später in Bezug auf den Grenzübergang. Die vor Ort dominierende islamistische Miliz HTS kontrolliert Bab al-Hawa, was ihnen auch erlaubt, Zölle zu erheben.
"Indem Russland bei jeder Gelegenheit behauptet, in Idlib säßen nur Terroristen, möchte es Geldgeber abschrecken", sagt Expertin Scheller. "HTS kontrolliert Idlib und ist extremistisch", sagt sie - das sei schon richtig. Aber in der Provinz lebten Millionen Menschen, mehr als 95 Prozent davon sind Zivilistinnen und Zivilisten, "darunter sehr, sehr viele Kinder".
Russland, Iran und die Türkei haben das Sagen
Generell ist die humanitäre Lage in Syrien nach elf Jahren Krieg katastrophal - und diese wird noch verschärft durch eine schwere Wirtschaftskrise, inklusive eines Absturzes der syrischen, aber auch der türkischen Währung. Das wirkt sich auch negativ auf die Region Idlib aus. Dabei galt Idlib einmal als Kornkammer Syriens. Doch davon ist nicht mehr viel übrig; viele Bauern wurden vertrieben oder flüchteten, Menschen kampieren auf Ackern. Einige Felder wurden von Raketen getroffen. Schon vor dem Krieg gegen die Ukraine herrschte in ganz Syrien Weizenknappheit. "Doch die globale Versorgungskrise verschlimmert die Lage derzeit", sagt Anita Starosta von Medico International. Brot, Mehl, Zucker und auch Treibstoff sind knapp.
Die Sicherheitslage hat sich hingegen minimal verbessert: Offiziell herrscht Waffenstillstand zwischen der HTS-Miliz und ihrer Schutzmacht, der Türkei, auf der einen und Präsident Assad und Russland auf der anderen Seite. Der Waffenstillstand sorgt dafür, dass seit zwei Jahren in Idlib weniger gekämpft wird, auch wenn es trotzdem immer wieder zu Luftangriffen kommt.
Die EU und die USA leisten überwiegend nur noch humanitäre Hilfe in Syrien, auch wenn beteuert wird, Syrien stünde weiterhin hoch auf der politischen Agenda. Im Mai wurden in Brüssel immerhin etwas mehr als sechs Milliarden Euro für das von Krisen und Krieg gebeutelte Land gesammelt. Doch im Land selbst geben nur eine Handvoll Länder den Ton an: Russland und Iran an der Seite Assads und die Türkei in Idlib und im Nordosten Syriens.
Sorge vor Plänen der Türkei
Nicht nur Assad und Russland könnten machtpolitisch von einem Ende des UN-Mandats für den Grenzübergang in Bab al-Hawa profitieren - sondern auch die Türkei. Denn am Grenzposten Bab al-Hawa passieren nicht allein Hilfsgüter der UN den Übergang, er ist auch ein Umschlagplatz für die nicht-staatlichen türkischen Hilfsorganisationen, die unabhängig von den UN arbeiten. Die Türkei könnte bei einem Ende des UN-Mandats immer noch entscheiden, wie viel Hilfe verschiedene andere Organisationen ins Grenzgebiet bringen dürfen, sie säße sozusagen am richtigen Hebel. Wenn die Türkei solche Hilfslieferungen zuließe, dann wohl vor allem um zu verhindern, dass noch mehr Menschen aus Syrien in die Türkei flüchten. Denn dies liegt nicht in ihrem Interesse.
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Allerdings blicken die Menschen in Idlib mit Sorge auf das Vorgehen der Türkei im Nordosten des Landes. Bereits seit Wochen beschießt die Türkei dort Dörfer. Drohnen schwirren über den Köpfen der Menschen. Erdogan will laut eigener Darstellung PKK-nahe kurdische Kräfte aus dem syrischen Grenzgebiet zur Türkei vertreiben. Kritiker sind hingegen überzeugt, dem türkischen Präsidenten gehe es vor allem darum, sich zumindest so viel syrisches Gebiet zu sichern, um Geflüchtete aus der Türkei dorthin zu schicken - auch wenn diese aus anderen, nicht kurdisch geprägten Regionen Syriens stammen.
Sollte die Rolle der Türkei dann auch in Idlib weiter aufgewertet werden, so Huda Khayti, hätten die Menschen Sorge, möglicherweise ebenfalls vertrieben zu werden.
Ob es zwischen Russland und der Türkei in Sachen Grenzübergang Bab al-Hawa schon Gespräche oder Absprachen gibt, ist nicht bekannt. "Was ich aber weiß ist, dass wir Menschen in Idlib immer zum Spielball politischer Interessen werden - besonders, wenn Russland politisch etwas erreichen will", sagt Menschenrechtsaktivistin Huda Khayti. Medico-Koordinatorin Anita Starosta plädiert jedenfalls dafür, dass sich alle Hilfsorganisationen zusammenschließen, um gegen die Instrumentalisierung der humanitären Hilfe vorzugehen.
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