Plädoyer für Gerechtigkeit und Stabilität
Als Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock am Mittwoch (08.03.) im Flüchtlingslager Qadiya in Norden des Irak in der Region Kurdistan eintrifft, sitzt eine Gruppe von Mädchen im Teenageralter mit Farbe und Papier an einem Tisch. An einer Stellwand hängen Zeichnungen, die in Kunsttherapiesitzungen entstanden sind.
Es sind die zu Papier gebrachten Erinnerungen der Mädchen an die Zeit unter der Herrschaft des "Islamischen Staates" (IS): aneinandergekettete Frauen, von Kopf bis Fuß in schwarze Gewänder gekleidet, blutüberströmte Körper, die auf dem Boden ausgestreckt liegen.
Im Lager Qadiya, das nur 19 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt liegt, leben heute mehr als 12.000 Menschen. Fast alle gehören der Minderheit der Jesiden an, die nach der Machtübernahme durch den IS im Jahr 2014 aus ihrer Heimat in der irakischen Sindschar-Region fliehen mussten.
Unter der Herrschaft des IS wurden dort Tausende getötet und verschleppt. Viele Frauen, insbesondere Jesidinnen, wurden versklavt, vergewaltigt und dann gezwungen, die von IS-Kämpfern gezeugten Kinder auf die Welt zu bringen.
Baerbock ist die erste deutsche Außenministerin, die das Lager im Nordirak besucht. Viele der Projekte, die Frauen und Kindern helfen sollen, Trauer und Traumata zu verarbeiten, werden auch mit deutscher Hilfe finanziert. Dieser Besuch zum Auftakt setzte den Ton für den Rest von Baerbocks viertägiger Reise durch den Irak.
Die Bundesaußenministerin widmete sich zwar auch geo- und sicherheitspolitischen Fragen, bei denen der Irak möglicherweise eine zentrale Rolle spielen könnte; andererseits nahm sie sich immer wieder Zeit, mit den Opfern des jahrelangen IS-Terrors in der Region zu sprechen, die bis heute auf Gerechtigkeit warten.
Gutes deutsch-irakisches Verhältnis
Die Rolle von Iraks Nachbarstaat Iran war wichtiges Thema als Annalena Baerbock am Dienstag in der Hauptstadt Bagdad zum Auftakt ihrer Reise zunächst mit Mitgliedern der irakischen Regierung zusammentraf - fast 20 Jahre nach dem Beginn der US-geführten Invasion, die zwei Jahrzehnte des Blutvergießens im Lande einleitete. Der neue Premierminister Mohammed Shia al-Sudani ist verzweifelt bemüht, der Welt zu zeigen, dass seine Regierung nicht unter der Fuchtel des Iran steht - weder politisch noch wirtschaftlich.
Allerdings ist Irak der größte Importeur iranischer Waren und die Regierung in Bagdad ist bei der Gas- und Stromversorgung auf Hilfe aus dem Iran angewiesen. Der Einfluss der Führung in Teheran, die im Irak schiitische Parteien und Milizen unterstützt, ist nach wie vor groß. Im vergangenen Jahr hat der Iran zudem Raketen auf kurdische Gruppen im Nordirak abgefeuert. Nach Ansicht der Regierung in Bagdad haben diese Angriffe zu regierungsfeindlichen Protesten geführt, die inzwischen den ganzen Irak ergriffen hätten.
Bei einem Statement an der Seite des irakischen Außenministers Fuad Hussein kritisierte Baerbock die Missachtung der irakischen Souveränität durch den Iran. Das iranische Regime sei offenbar bereit, Menschenleben und Stabilität in der Region zu gefährden, um seine Macht zu erhalten, sagte Baerbock. "Das ist völlig inakzeptabel und gefährlich für die Region insgesamt."
Baerbock ist der Ansicht, dass der Irak "ein Schlüsselfaktor für die Stabilität der Region" ist - wenn es dem Land gelingt, ein stabiles Umfeld aufrechtzuerhalten, ohne übermäßigen Einfluss von externen Akteuren wie dem Iran oder der Türkei.
Deutschland steht weiterhin in einem guten Verhältnis zum Irak. Deutschland beteiligte sich nicht an der Invasion im Jahr 2003, zu der der damalige US-Präsident George W. Bush aufgerufen hatte. Die Bush-Administration hatte den Einmarsch mit der Behauptung begründet, das Regime des irakischen Diktators Saddam Hussein besitze illegal Massenvernichtungswaffen.
Es wurden aber nie solche Waffen im Irak gefunden. Zwei Jahrzehnte später ist nun die Bundeswehr im Irak - mit einer ganz anderen Mission: Deutsche Soldaten bilden in Erbil kurdische Sicherheitskräfte aus, damit die verbliebenen IS-Schläferzellen wirkungsvoll bekämpft werden können.
Juristische Aufarbeitung des Völkermords an den Jesiden
Neben Gesprächen in Bagdad, dem Besuch von Binnenvertriebenen sowie bei den Bundeswehrsoldaten im "Camp Stephan" in Erbil stand unter anderem auch ein Abstecher in die Region Sindschar auf Baerbocks Irak-Reiseprogramm. Die gebirgige Gegend war einst das bevölkerungsreichste Jesidengebiet und dann Schauplatz einiger der abscheulichsten Verbrechen des IS.
Die Welt habe es versäumt, so Baerbock im Nordirak, die Terrorgruppe daran zu hindern, einen Völkermord an den Jesiden zu begehen. "Die Verbrechen, die begangen wurden, an den Menschen und an sehr, sehr vielen Kindern, die ich hier getroffen habe, die müssen vor Gericht gebracht werden", forderte die Ministerin.
Die Strafverfolgung der IS-Verbrechen sei ein mühsamer Prozess. "Aber wenn es keine Gerechtigkeit gibt, dann gibt es keine Chance auf Heilung. Dann gibt es keine Chance auf Versöhnung und dann gibt es keine Chance auf Zukunft", so Baerbock.
Im Januar hat der Deutsche Bundestag das Massaker des "Islamischen Staates" an den Jesiden offiziell als Völkermord anerkannt. Vertreter der irakischen und kurdischen Regierung sowie der jesidischen Gemeinschaft lobten diesen Schritt während der Reise der Außenministerin in dieser Woche.
Baerbock versprach, sie werde sich dafür einsetzen, dass die Täter vor Gericht gestellt werden - sei es innerhalb des irakischen Justizsystems oder im Ausland. Deutschland, in dem mit rund 150.000 Menschen die vermutlich größte jesidische Diaspora der Welt lebt, ist eines der wenigen Länder, die juristisch gegen Mitglieder des IS vorgegangen sind.
Im November 2021 verurteilte ein deutsches Gericht einen irakischen Dschihadisten wegen Völkermordes an den Jesiden - ein Novum in der Welt. Im Januar stand eine Deutsche in Koblenz vor Gericht, der Beihilfe zu Kriegsverbrechen und Völkermord mit dem IS in Syrien durch die "Versklavung" einer Jesidin vorgeworfen wurde.
Klimawandel als existenzielle Bedrohung
Grünenpolitikerin Baerbock richtet auch als Außenministerin ihr Augenmerk auf die Bekämpfung des Klimawandels. Das war auch bei dieser Reise nicht anders.
Laut dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen steht der Irak auf Platz fünf der am stärksten vom Klimawandel betroffenen Länder der Welt. Wüstenbildung, Trockenheit und steigende Temperaturen sind die größten Probleme. Allerdings ist der Irak auch einer der größten Ölproduzenten der Welt. Die Wirtschaft des Landes ist fast vollständig von der Öl- und Gasproduktion abhängig und trägt damit in hohem Maße zum Klimawandel bei.
Und so besuchte Baerbock während ihrer Irakreise am Freitag das Sumpfgebiet am Zusammenfluss von Euphrat und Tigris, die sogenannten Marschen im Südosten des Landes. Diese stehen seit 2016 als UNESCO-Weltkulturerbe unter Schutz. Doch durch die zunehmende Wasserknappheit gerät die Existenzgrundlage der Bevölkerung in Gefahr, die in den Marschen von Fischfang und Landwirtschaft lebt.
Ein weiterer Anlass für die Bundesaußenministerin, erneut darauf hinzuweisen, dass die Folgen des Klimawandels auch die Sicherheit gefährden können: "Die Klimakrise verschärft die bestehenden Konflikte", sagte Baerbock. "Sie ist damit nicht nur eine der größten Umweltkrisen, eine der größten Krisen für die Lebensgrundlagen der Menschen, sondern sie ist auch die größte Gefahr für regionale Spannung, für die globale Sicherheit."
Giulia Saudelli
© Deutsche Welle 2023
Mitarbeit: Jessie Wingard
Adaptiert aus dem Englischen von Arnd Riekmann