Sehnsucht nach dem Wesentlichen

Der Islam lebt von Vielfalt. Das zeigt sich besonders an seinem mystischen Zweig, dem Sufismus. In seinem neuen Buch führt Marian Brehmer ein in die vielfältigen Formen der islamischen Mystik. Von Lisa Neal

Von Lisa Neal

Wie kann man über Mystik schreiben, wenn sich deren innerstes Wesen nicht in Worte fassen lässt? Der Autor Marian Brehmer löst die Frage, indem er von verschiedenen Zugängen berichtet, die sich dem Kern annähern. In seinem neuen Buch "Sich den Durst aneignen“ (Corso Verlag 2023), trägt er sufische Praktiken aus dem Nahen und Mittleren Osten zusammen. Dazu gehören hauptsächlich Dichtung, Musik, Heiligenverehrung und sema, die fälschlicherweise als Tanz bezeichnete Bewegungsmeditation des Drehens um die eigene Achse.  

Wo ein Problem ist, dorthin eilt die Antwort. Wo ein Schiff ist, dorthin fließt das Wasser. Verbringe weniger Zeit damit, das Wasser zu suchen – Eigne dir den Durst an. Dann wird das Wasser von oben und unten hervorsprudeln. (Dschalaluddin Rumi)  

Nach "Der Schatz unter den Ruinen“, geht es in Brehmers zweitem Buch wieder um Reisen in die Welt des Sufismus. Angetrieben von seinem eigenen "Durst“ nach Spiritualität und Selbsterkenntnis, spricht er in diesem Buch noch stärker die sinnliche Ebene an. Er arbeitet mit Fotos, Gedichten, Auszügen aus Gesprächen, Hintergrundinformationen und eigenen Erfahrungen.  

Hauraman; Foto: Marian Brehmer
Männer bei einem sufischen Ritual. Jedes Kapitel in Brehmers Buch führt in die kulturellen Ausprägungen der gelebten Mystik und macht damit die Vielfalt des Sufismus nachvollziehbar, wie er bis heute in islamischen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens gelebt wird.



Besonders seine farbintensive Sammlung von Fotos aus den letzten Jahre spiegelt, wie tief er sich auf die sufischen Welten eingelassen hat. Die Bilder zeigen außerdem Brehmers Auge für Symmetrien und seine Gabe, auch die stillen Momente zu beobachten.

Ergebnis jahrelanger Reisen

Die vier Hauptkapitel des Buches setzen sich aus Reisen in die Welt des Sufismus zusammen und teilen sich auf in die Regionen Anatolien und Syrien, Persien, Südasien, Al-Andalus und Marokko. Dass das Buch nicht bloß ein ansehnlicher Band mit Bildern bleibt, liegt auch an Brehmers interkultureller Feinfühligkeit, die an verschiedenen Punkten durchscheint.  

Brehmer kennt die sufischen Welten, in denen er sich bewegt. Er lernte als Kind das spirituelle Leben in Indien kennen, dazu kamen in den letzte 12 Jahren viele Reisen. Er studierte Iranistik, spricht fließend Persisch und Türkisch und lebt nun seit einigen Jahren in der Türkei.  

Jedes Kapitel führt in die verschiedenen kulturellen Ausprägungen gelebter Mystik und macht damit die Vielfalt des Sufismus nachvollziehbar. Brehmers Freude am Staunen, Reisen, an Dichtung und Schönheit vermittelt er durch seine Sprache.

Lektüre an einem Heilgenschrein: Foto: Marian Brehmer
Nach "Der Schatz unter den Ruinen“, geht es in Brehmers zweitem Buch wieder um Reisen in die Welt des Sufismus. Angetrieben von seinem eigenen "Durst“ nach Spiritualität und Selbsterkenntnis, spricht er in diesem Buch noch stärker die sinnliche Ebene an. Er arbeitet mit Fotos, Gedichten, Auszügen aus Gesprächen, Hintergrundinformationen und eigenen Erfahrungen. Besonders seine farbintensive Sammlung von Fotos aus den letzten Jahre spiegeln, wie tief er sich auf die sufischen Welten eingelassen hat.

 

Somit passen Form und Inhalt des Buchs zusammen. Brehmers Erzählstil nimmt einen Aspekt auf, der jeden mystischen Weg mit ausmacht: eine Spannung zwischen Bildern, die in uns eine wortlose Sehnsucht berührt.



"Der Schlafwagen in der 'Sleeper Class' ist ein buntes Potpourri an Menschen und Geräuschen", schreibt Brehmer. "Ein Teeausschenker zieht mit einer schweren Thermoskanne in der Hand durch die Abteile. In flinken Handbewegungen gießt er dampfenden Milchtee in Pappbecher. […] Eine Gruppe barfüßiger Hindu-Wanderasketen, eingewickelt in safranfarbende Tücher, unterhält sich angeregt."

Und weiter: "Mittendrin, auf einer der blau gepolsterten Liegen, sitzen zwei ältere Herren, deren weißer Rauschebart sie unverkennbar als Muslime identifiziert. […] Kurz nach Sonnenuntergang holen die beiden Männer weiße Gebetskappen aus ihren Taschen und nehmen, ohne von ihren Liegen aufzustehen, eine konzentrierte Haltung an. Dann schließen sie ihre Augen, murmeln die Fatiha, die erste Sure des Koran, krümmen ihre Rücken, platzieren die Hände auf den Oberschenkeln.“

Im Gegensatz zu seinem ersten Buch verzichtet der Autor jetzt auf eine Ich-Erzählform, obwohl wir die Welten durch seine Wahrnehmung sehen, riechen und verstehen lernen. Dadurch ist das Buch trotzdem keine theologische Abhandlung oder geopolitische Analyse. Das liegt nicht etwa an der fehlenden Sachkenntnis des Autors.

Innenhof einer Moschee in Fes, Marokko; Foto: Marian Brehmer
Der Innenhof einer Moschee in Fes, Marokko. Das Revolutionäre am mystischen Weg ist, dass man Gott nicht in Tempeln, Moscheen und Kirchen findet, sondern in seinem eigenen Herzen. Dazu muss das Herz geöffnet und von Illusionen gereinigt werden. Der lange Weg der inneren Transformation ist nicht einfach, der Autor bezeichnet diesen Prozess mit den Worten des großen Sufi-Meisters und Dichters Dschalaluddin Rumi als "Gekochtwerden“.

Im Islam ist die Mystik besonders lebendig

Das Fachwissen des Autors zeigt sich im Vorwort und in der Präzision, mit der er Phänomene beschreibt wie die Ahi- und andere Orden, die pakistanischen Derwische, Malang, oder Persönlichkeiten wie die indische Mystikerin Mirabai, den persischen Heiligen Charakani. Kenntnisreich beschreibt er auch Besonderheiten wie die Einführung von Musik in die Glaubenspraxis der Sufis durch den persischen Mystiker Muinuddin Chishti.



Die spirituelle Klarheit des Autors zeigt sich in der Kernaussage des Buches: Das Revolutionäre am mystischen Weg ist, dass man Gott nicht in Tempeln, Moscheen und Kirchen findet, sondern in seinem eigenen Herzen. Dazu muss das Herz geöffnet und von Illusionen gereinigt werden. Der lange Weg der inneren Transformation ist nicht einfach, der Autor bezeichnet diesen Prozess mit den Worten des großen Sufi-Meisters und Dichters Dschalaluddin Rumi als "Gekochtwerden“: "Du musst dich selbst vergessen, um Ihn [Gott] an deiner Seite zu finden. (Seltsam sind die Zeiten, Sain Bullhe Shah)".

Die Vielfalt des Sufismus zeigt, dass die Mystik im Islam auch heute noch lebendig ist. Das gilt nicht in gleichem Maße für die anderen beiden abrahamitischen Religionen.

Buchcover von Marian Brehmers "Sich den Durst aneignen" Corso Verlag 2023; Quelle: Verlag
Wie kann man über Mystik schreiben, wenn deren innerstes Wesen sich nicht in Worte fassen lässt? Der Autor Marian Brehmer löst die Frage, indem er von verschiedenen Zugängen zum Sufismus berichtet, die sich dem Kern annähern. In seinem Buch beschreibt er sufische Praktiken wie die Dichtung, Musik, Heiligenverehrung und sema, die - fälschlicherweise als Tanz bezeichnete – Bewegungsmeditation des Drehens um die eigene Achse.    

Die jüdische Mystik, Kabbala, findet vor allem in chassidischen Gemeinden in den USA und Israel Anhänger. Die christliche Mystik wird vereinzelt in Orden praktiziert, in Form von Exerzitien (Meditationen) und in kontemplativen Orden wie bei den Karmelitinnen.



Im deutschsprachigen Raum fehlen jedoch die sichtbaren, alltagstauglichen gelebten Formen christlicher Mystik.



Damit geht nicht nur ein großer Schatz des christlichen Weges zur Selbsterkenntnis verloren.



Die Lücke lässt zu viel Raum für esoterische Inanspruchnahmen, die, genau wie die überstrenge weltliche Orthodoxie, in jeder Religion freiheitliches geistliches Leben gefährden können.



Je mehr man sich mit der christlichen Mystik beschäftigt, desto reizvoller kann sie werden.



Ob sie ein Weg ist, sich (wieder) in das Christentum zu verlieben, kann sich besser zeigen, wenn wir "Brückenbauer“ wie die Bücher von Brehmer über Sufismus zu christlichen Welten finden. 

Bis dahin lohnt sich eine Inspiration durch dieses Buch, denn "[d]er Mystiker weiß, dass die unzähligen spirituellen Wege der Welt Wanderpfaden gleichen, die wie von verschiedenen Seiten eines Berges auf denselben Gipfel hinaufführen."



Weiter heißt es: "Unterschiede mag es in der Beschaffenheit und Vegetation dieser Wege geben – manch einer ist steil und kurz, während ein anderer sich über eine lange Strecke langsam nach oben windet – doch das Ziel ist letztendlich dasselbe“. 

 

Lisa Neal

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