Was geschah mit Razan Zeitouneh?
Razan Zeitouneh wusste, wie gefährlich ihre Arbeit war. Aber ihr Traum von einem demokratischen Syrien war größer als ihre Angst. Nach Beginn des syrischen Bürgerkriegs im Jahr 2011 wurde sie schnell zu einer Ikone der Opposition. Zeitounehs Beharrlichkeit beeindruckte viele Menschen. Ihre Furchtlosigkeit machte sie zu einer Gefahr für das Assad-Regime.
Die prominente Anwältin organisierte landesweit Proteste – und sie dokumentierte Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen. Das Besondere ihrer Arbeit: Sie ging allen Fällen nach – egal, ob sie von Assads Truppen oder von der bewaffneten Opposition begangen wurden. Im Dezember 2013 entführten Unbekannte Razan Zeitouneh, ihren Ehemann und zwei Kollegen. Seitdem sind die Aktivisten verschwunden.
Das Investigativ-Team der Deutschen Welle hat den Fall mehrere Monate lang untersucht. Ihre Dokumentation der Vorfälle basiert auf Dutzenden von Interviews mit Kollegen, Rebellenführern, mutmaßlichen Tätern, Augenzeugen und Überläufern. Um sie nicht zu gefährden, veröffentlicht die Deutsche Welle die Identitäten nicht und verzichtet auch auf die Nennung zahlreicher Details, die Rückschlüsse auf ihre Identität geben könnten.
Dennoch erlauben die Aussagen eine Rekonstruktion der Ereignisse. Und sie belegen, dass die friedlichen Aktivisten nicht nur vom Assad-Regime verfolgt wurden, sondern auch von einer Gruppe aus der bewaffneten Opposition.
Feindseliger Empfang in Duma
Die Spurensuche beginnt im Frühjahr 2013: Razan Zeitouneh befindet sich seit Monaten auf der Flucht vor den Schergen des Assad-Regimes. Die 36-Jährige taucht schließlich in Duma unter – einer Stadt in der Nähe von Damaskus, die damals unter der Kontrolle der bewaffneten Opposition steht. Von hier aus will sie ihre Arbeit für Demokratie und Menschenrechte fortsetzen.
Duma ist zu diesem Zeitpunkt von verschiedenen konkurrierenden Milizen besetzt: lokalen Rebellen, Islamisten, aber auch Dschihadisten des IS und der Al-Kaida-nahen Nusra-Front. Sie alle kämpfen in unterschiedlichen Koalitionen gegen das Assad-Regime – aber immer wieder auch gegeneinander.
In dieser unübersichtlichen Situation baut Zeitouneh zusammen mit ihren Kollegen ein neues Büro auf. Die Aktivisten wollen die Zivilgesellschaft stärken, setzen sich für Frauenrechte, Demokratie und eine zivile Gerichtsbarkeit ein. Schon bald erbittet die Anwältin Zugang zu den Gefängnissen der bewaffneten Opposition. Ehemalige Häftlinge haben ihr von Gewalt und Folter berichtet. Dem will sie nachgehen.
Dominanz von Jaish al-Islam
Ihre Recherchen stoßen auf Widerstand, vor allem bei einer Gruppe, der ultrakonservativen Salafisten-Miliz Jaish al-Islam, arabisch für "Armee des Islam", die schon bald in Duma dominieren wird. Ihre Anführer sind zwar mehr als einverstanden damit, dass Razan Zeitouneh die Gräueltaten der Assad-Truppen dokumentiert, sobald es aber um ihre eigenen Verbrechen geht, reagieren sie feindselig. Zeitouneh bekommt erste versteckte Warnungen.
Die Miliz bestätigt der Deutschen Welle die direkten Kontakte mit Zeitouneh. "Ich habe Frau Razan (damals) persönlich mitgeteilt, dass es ethisch geboten ist, über das Assad-Regime zu schreiben", erinnert sich ein ehemals hochrangiges Mitglied von Jaish al-Islam, Mohammed Alloush: "Doch was die Rebellengruppen betrifft, habe ich sie gebeten, erst mit ihnen zu sprechen und sie über Menschenrechtsthemen aufzuklären, bevor sie ihre Verstöße dokumentiert."
Bis zum Sommer 2013 verweigert Jaish al-Islam Zeitouneh den Zugang zu ihren Gefängnissen. Als die Anwältin nicht lockerlässt, starten Mitglieder der Salafisten-Miliz eine Schmutzkampagne in den sozialen Medien gegen sie und diskreditieren sie als unmoralisch und als Spionin des Regimes.
Solche Anschuldigungen sind gefährlich in Duma – einer Stadt, in der es keine Rechtssicherheit gibt, sondern nur das Recht des Stärkeren. Doch die Anwältin lässt sich nicht einschüchtern: "Razan war eine der ersten in der syrischen Opposition, die sagte, dass wir den bewaffneten Gruppen keinen Freifahrtschein geben dürfen, selbst wenn sie gegen ein größeres Übel kämpfen", erinnert sich Nadim Houry, Direktor der Organisation Arab Reform Initiative und ein Freund von Zeitouneh.
''Warum entführt ihr sie nicht?''
Im September 2013 werden die Drohungen immer aggressiver. Unbekannte schießen vor dem Büro der Aktivisten in die Luft. Zeitouneh erhält einen Drohbrief: "Verlasse Duma in drei Tagen oder ich werde dich töten". Fünfmal steht der Satz da.
Syrischen Quellen gelingt es, den Schreiber des Briefes zu identifizieren. In einer Tonaufnahme, die der Deutschen Welle exklusiv vorliegt, beschreibt er, wie ein Mitglied von Jaish al-Islam ihm den Auftrag gab, Razan zu bedrohen:
"Er sagte mir, dass dieses Mädchen eine Agentin ist (...) und uns wegen Kriegsverbrechen vor Gericht bringen könnte", erinnert er sich an das Gespräch. "Ich fragte ihn: Wenn sie eine Agentin ist und gegen das Land arbeitet, warum tut ihr dann nichts? Warum entführt ihr sie nicht? Habt ihr Angst vor ihr? Er antwortete mir: Nein, wir haben keine Angst vor ihr, wir werden sie uns holen, aber jetzt bedrohen wir sie erst einmal."
Das Mitglied von Jaish al-Islam, den der Zeuge in seiner Aussage zitiert, heißt Hussein al-Shazly. 2013 ist er Sicherheitsbeamter in Duma und macht nach übereinstimmenden Zeugenaussagen häufig die Drecksarbeit für Jaish al-Islam. Der Auftrag, den Drohbrief zu schreiben, so wird er später vor Zeugen zugeben, kam vom religiösen Führer der Rebellengruppe – Samir Kaakeh. Es wird nicht bei den Drohungen bleiben.
Spurlos verschwunden
Am späten Abend des 9. Dezembers 2013 dringen mehrere Männer in die Büroräume ein und entführen Razan Zeitouneh, ihren Ehemann Wael Hammadeh, die Aktivistin Samira Khalil und den Anwalt Nazem Hammadi.
Als die Kidnapper zuschlagen, führt Nazem Hammadi gerade ein Skype-Gespräch mit seinem Bruder. Der erinnert sich an lautes Klopfen und plötzliches Geschrei: "Ihr seid Feinde Allahs." Sein Bruder habe noch gerufen: "So geht das nicht, Leute, beruhigt euch mal!" Dann bricht die Leitung ab.
Es gibt wenig gesicherte Informationen darüber, was genau in der Nacht der Entführung vor bald acht Jahren geschah. Nachbarn erinnern sich an schreiende Männer. Medien berichten über Bewaffnete. Ein Zeuge will einen Transporter auf der Straße gesehen haben, ein anderer, wie ein Rebellenführer angeblich am nächsten Tag mit den Aktivisten wegfuhr.
Die Deutsche Welle hat zahlreiche Aussagen untersucht. Viele ließen sich nicht erhärten. Sicher ist nur, dass die Entführer die Telefone und Computer der Aktivisten mitnahmen. Das belegen Fotos vom Tatort. Einen der Computer hatte Razan Zeitouneh durch ein vom US-Außenministerium finanziertes Hilfsprogramm bekommen. Er führt zu einer ersten belastbaren Spur.
Die Tage nach der Entführung seien chaotisch und verstörend gewesen, sagt Osama Nassar. Er ist ein enger Freund und Kollege der Anwältin. Die Deutsche Welle trifft ihn in der Türkei. Er konnte den Kidnappern entkommen, weil er damals Freunde besucht hatte und nicht im Büro war.
Nassar erinnert sich: Am Tag nach der Entführung seien alle Rebellenführer vorbeigekommen, bis auf die von Jaish al-Islam. Sie hätten ihn gefragt, wen er im Verdacht habe. Er habe geantwortet: "Euch alle." Ein Fehler, wie er heute glaubt. Keine der Rebellengruppen hätte anschließend ernsthaft versucht, seine Freunde zu finden.
Ein digitaler Hinweis taucht auf
Zwei Monate später gelingt es, den Computer von Razan Zeitouneh aufzuspüren: Einer der Aktivisten informiert den damaligen US-Botschafter in Syrien, Robert Ford, dass der gestiftete Laptop bei der Entführung gestohlen wurde. Die US-Behörden seien daraufhin in der Lage gewesen, den Laptop im berüchtigten Tawbeh-Gefängnis von Jaish al-Islam zu orten. Ein Mitglied der Islamisten-Miliz habe ihn benutzt, um sich in die sozialen Medien einzuloggen. Doch ein Sprecher des US-Außenministeriums will das auf Nachfrage der Deutschen Welle nicht bestätigen.
Osama Nassar reagiert damals sofort: Auf offener Straße konfrontiert er den Gründer und damaligen Anführer von Jaish al-Islam, Zahran Alloush. Der bestreitet erneut jede Beteiligung seiner Gruppe an der Entführung. Doch 24 Stunden nach dieser Konfrontation werden alle Social Media-Konten des Jaish al-Islam-Mitglieds, das über den Lapotop von Zeitouneh im Internet unterwegs war, gelöscht. Seitdem ist der Mann unauffindbar.
Folter im Gefängnis
Ein weiterer entscheidender Hinweis kommt von einer Frau, die Razan Zeitouneh wenige Monate nach der Entführung in einem Gefängnis von Jaish al-Islam gesehen haben will. Das geht aus einer weiteren Tonaufnahme hervor, die der Deutschen Welle vorliegt.
"Einmal haben wir in Tawbeh den Namen Razan Zeitouneh gehört, als sie die Frau zu einem Verhör brachten", gibt sie zu Protokoll. "Weil sie sich wehrte, schlugen sie Razan, und sie verlor das Bewusstsein. Wir sollten sie zurück in die Zelle bringen. Als sie zu sich kam, sah ich ihre grünen Augen. Sie war groß und dünn."
Aktivist Osama Nassar ist im Jahr 2014 bei dem Treffen mit der Augenzeugin dabei. Um ihre Aussage zu überprüfen, zeigt er der Frau ganz unterschiedliche Frauenbilder und bittet sie, Zeitouneh zu identifizieren. Sie habe sich kein einziges Mal geirrt, erinnert er sich. Die Deutsche Welle findet noch einen weiteren Zeugen, der die Menschenrechtsanwältin im Tawbeh-Gefängnis gesehen haben will. Weil er bedroht wird, verzichten wir auf die Dokumentation seiner Aussage.
Ehemalige Häftlinge aber berichtetn von den Zuständen dort: "Die Gefängnisse von Jaish al-Islam sind genauso schlimm wie die des Assad-Regimes. Es ist die gleiche Folter, es sind die gleichen Erniedrigungen – alles das gleiche", sagt Rateb Khbieh. Ihn sperrte die Salafisten-Miliz dreieinhalb Jahre lang ein, weil er sich einer anderen Rebellengruppe angeschlossen hatte. "Die Leute von Jaish al-Islam waren ja früher selber in den Regime-Gefängnissen und wurden dort gefoltert. Und heute machen sie es eben mit ihren Gefangenen genauso."
Aussage gegen Aussage
Die Deutsche Welle konfrontiert Jaish al-Islam im Norden Syriens mit der Recherche. Ihr Sprecher Hamza Bayraqdar streitet alle Vorwürfe ab. In den Gefängnissen werde nicht gefoltert, und mit dem Verschwinden der Aktivisten hätten sie nichts zu tun. "Ich betone noch einmal, was wir schon immer gesagt haben", sagt Bayraqdar: "Jaish al-Islam hat keinen der Aktivisten jemals in seiner Gewalt gehabt. Definitiv – das schwöre ich."
Die Zeugen bezichtigt er der Lüge: "Wer auch immer behauptet, dass Jaish al-Islam für das Verschwinden verantwortlich ist, ergreift nicht nur Partei, sondern beschuldigt uns, um nicht die Wahrheit sagen zu müssen oder um die Täter zu entlarven." Bayraqdar vermutet Dschihadisten oder das Assad-Regime hinter der Tat. Indizien oder Belege für seine Behauptungen liefert er nicht.
Mehrere Quellen berichten der Deutschen Welle, dass vermutlich nur sehr wenige hochrangige Mitglieder von Jaish al-Islam von der Entführung wussten. Selbst der militärische Anführer der Gruppe, Zahran Alloush, erfährt offenbar erst im Nachhinein davon. Vieles deutet darauf hin, dass sein Stellvertreter Abu Qusai al-Dirani die Entführung in Absprache mit dem religiösen Führer der Gruppe, Samir Kaakeh, plante und ohne Alloushs Wissen anordnete - ohne zu wissen, was sie damit auslösen würden.
Lösegeld und gescheiterte Befreiung
Im Jahr unmittelbar nach der Entführung wird der Druck auf die Rebellengruppe immer größer. Internationale Vermittler schalten sich in den Fall ein, um die Freilassung der vier Aktivisten zu erreichen, darunter die USA und Russland. Das Emirat Katar soll der Führung von Jaish al-Islam sogar fünf Millionen Dollar angeboten haben.
Vor allem bei Jaish-Gründer Zahran Alloush zeigt das offenbar Wirkung: Er strebt eine politische Rolle in einem Nachkriegs-Syrien an, will Ansprechpartner des Westens werden. Doch alle befragen ihn nur zum Schicksal der vier Aktivisten. Im Jahr 2015 sucht Alloush deshalb nach einer gesichtswahrenden Lösung, in der er nicht als Lügner oder Kriegsverbrecher dastehen würde. Er ist zum ersten Mal bereit, mit den Freunden von Razan Zeitouneh zu verhandeln:
"Ich habe ihm angeboten, ein Video aufzunehmen, in dem ich die Schuld auf mich nehme und sage, ich hätte wegen finanzieller oder politischer Probleme die Entführung von Razan beauftragt – oder was immer sie als Garantie wollen", erinnert sich der syrische Menschenrechtsanwalt und enge Freund von Zeitouneh, Mazen Darwish.
"Der Vertreter von Jaish al-Islam hat dann gesagt: Selbst wenn du uns dieses Video gibst, kannst du garantieren, dass Razan nicht redet? Damals dachte ich sofort: Oh, Wahnsinn, sie haben sie."
Zahran Alloush willigt in den Plan ein. Doch bevor er umgesetzt werden kann, wird der Gründer von Jaish al-Islam bei einem Luftangriff getötet. Sein Nachfolger fühlt sich nicht an die Abmachung gebunden. Der Deal platzt, das Schicksal der Entführten bleibt weiter im Dunkeln.
Strafanzeige in Frankreich
Doch Menschenrechtsanwalt Mazen Darwish recherchiert weiter. Von Paris aus, wo er mittlerweile lebt, sucht er nach Zeugen und Hinweisen, bis er 2019 zusammen mit seiner Kollegin Clémence Bectarte Strafanzeige gegen Jaish al-Islam einreicht. Die französische Justiz untersucht den Fall, hört Zeugen an und hat bereits ein hochrangiges Mitglied der Miliz festgenommen.
Auch wenn noch Monate oder sogar Jahre vergehen könnten, bis die Richter über eine Anklage entscheiden: Es ist es ein erster Versuch, nicht nur das Assad-Regime oder den IS anzuklagen, sondern auch die Verbrechen der bewaffneten Opposition aufzuarbeiten.
"Es ist an der Zeit, laut auszusprechen, dass die syrische Bevölkerung auch unter den Gruppen gelitten hat, die von sich behaupteten, für die Revolution zu kämpfen", betont Anwältin Clémence Bectarte im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Auch diese Gruppen haben sich gegen die Bevölkerung gestellt. Und genau davor hat Razan gewarnt und musste deshalb vielleicht sterben. Es ist ihr Vermächtnis, dass wir diesen Kampf weiterführen."
Birgitta Schuelke-Gill, Maria Chehadeh, Lewis Sanders
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Redaktionelle Mitarbeit: Dana Sumlaji und Wafaa Albadry