Der unberechenbare Feind
Als sich 1987 die palästinensischen Anhänger der ägyptischen Muslimbruderschaft im Gazastreifen kurz nach Ausbruch der ersten Intifada in "Islamische Widerstandsbewegung“ (arabisches Akronym: Hamas) umbenannten, verfolgten sie hauptsächlich zwei Ziele: Den Staat Israel durch einen bewaffneten "Heiligen Krieg“ zu vernichten, um auf dessen Gebiet und im gesamten Palästina eine islamische Herrschaft zu errichten, sowie die Führung des palästinensischen Volkes zu übernehmen.
Nach fast zwei Jahrzehnten der Opposition zur säkularen Rivalin Fatah – der führenden Kraft innerhalb der Palästinensischen Befreiungsbewegung (PLO) –, deren Annäherung an und Friedensschluss mit Israel 1993 die Hamas mit zahlreichen Terroranschlägen gegen Israelis vergeblich zu torpedieren versuchte, schien im Januar 2006 letzteres Ziel in greifbare Nähe gerückt zu sein. Zermürbt durch den Terror militanter palästinensischer Gruppen hatte sich Israel im Jahr zuvor aus dem Gazastreifen zurückgezogen.
Die kurz darauf abgehaltenen Wahlen in den Palästinensischen Autonomiegebieten gewann überraschend die Hamas. Sie konnte oder wollte sich aber mit der Verliererin Fatah – deren Vertreter sollten wie gehabt weiter mit Israel verhandeln – nicht über eine eventuelle Teilung der Macht einigen.
Mitte Juni 2007 rissen die Islamisten im Gazastreifen, ihrem Stammgebiet, die Macht an sich und konnten nun zumindest dort die Umsetzung ihrer Vision von einer "islamischen Herrschaft über Palästina“ in Angriff nehmen. Israel antwortete mit einer Blockade zu Land und zur See, die bis heute besteht.
Klandestine Strukturen
Die Hamas hatte in ihrer Zeit im Untergrund unter israelischer Besatzung eine mehrschichtige, teilweise klandestine Struktur aufgebaut. Offen und sichtbar waren von Anfang an ihre sozialen Einrichtungen in und rund um die Moscheen der Islamisten-Bewegung. Auch deren politische Führung, von den israelischen Besatzern weitgehend geduldet, gab sich teilweise öffentlich zu erkennen. Darunter waren auch Mitglieder des Hamas-Politbüros, von denen ein Teil stets aus dem Ausland agierte.
Streng geheim blieb immer die Besetzung des Schura-Rats der Hamas, der periodisch die Angehörigen des Politbüros ernennt. Eine Geheimstruktur zeichnete von Beginn an auch den bewaffneten Arm der Hamas aus. Er formierte sich 1986 und gab sich 1992 öffentlich den Namen "Brigaden des Märtyrers Iz ed-Din al-Qassam“, benannt nach einem syrischen Nationalisten, der sich dem Widerstand der Palästinenser gegen die britischen Mandatsherren in Palästina angeschlossen hatte und 1935 im Gefecht mit britischen Soldaten starb.
Der militärische Arm der Hamas verfolgte eigene Ziele, die sich nicht immer mit denen der politischen Führung deckten. Welche Operationen er durchführte, hing nicht selten vom Charisma und Einfluss seiner Anführer ab – und auch von deren Beziehungen zu Militärs in unterstützenden Ländern wie Iran und Syrien.
Alleinherrschaft und Expansion
Die Alleinherrschaft der Hamas nach ihrer Machtübernahme im Gazastreifen ließ die verschiedenen Zweige der Bewegung schnell wachsen. Ihr politisches Personal baute rasch ein paralleles Semi-Staatssystem zu dem der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) im Westjordanland auf. Binnen weniger Jahre wurden die Qassam-Brigaden massiv ausgebaut. 2009 verfügten sie bereits über knapp 7000 Kämpfer. 2018 waren es doppelt so viele, heute geht man von rund 30.000 Mitgliedern aus.
Die Qassam-Brigaden inszenieren sich schon länger als eine reguläre Armee mit spezialisierten Einheiten: Neben einer Elite- und Raketen-Einheit, der "Luftwaffe“ (Drohnen) und einem "Marine“-Kommando lassen sie regelmäßig Infanteristen-Gruppen auf den Straßen aufmarschieren oder in Pick-ups auffahren.
Mit dem Image einer konventionellen Armee kollidiert, dass die Angehörigen der Qassam-Brigaden stets vermummt auftreten. Auch das weitverzweigte Tunnelsystem, das die Hamas – wie auch der mit ihr verbündete Islamische Dschihad mit seinen schätzungsweise 6000 bis 8000 Kämpfern der "Al-Quds-Brigaden“ – errichtet hat, bleibt der Öffentlichkeit bis auf sehr eingeschränkte Einblicke für Propagandazwecke verborgen.
Kampf gegen Israel
Die "Qassam-Brigaden“ sehen es als ihre Hauptaufgabe, Israel mit allen verfügbaren militärischen Mitteln zu bekämpfen und den Gazastreifen gegen Angriffe zu verteidigen. Konflikte mit der politischen Führung der Hamas bleiben dabei nicht aus, etwa über die Nutzung der vorhandenen Ressourcen: Steuergelder, Spenden islamischer Wohlfahrtsorganisationen, Finanzhilfen aus Katar (seit 2012) und in überschaubarem Umfang aus dem Iran.
Wohl auch um solche Konflikte zu vermeiden, wurde 2017 mit Jahia Sinwar zum ersten Mal ein Angehöriger der Qassam-Brigaden zum politischen Chef der Hamas im Gazastreifen ernannt. Die Hamas-Regierung war damals stark isoliert. Zum Assad-Regime in Syrien, einem traditionellen Unterstützer, hatte sie nach Ausbruch des dortigen Bürgerkriegs die Beziehungen abgebrochen.
Im Sommer 2014 hatte Israel auf den massiven Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen mit der Militäroperation "Starker Fels“ reagiert, die rund 1400 palästinensische Zivilisten das Leben kostete und bei der es zum bislang letzten Einsatz von israelischen Bodentruppen kam.
Ein Jahr zuvor hatte der Militärputsch in Ägypten gegen die dort seit kurzem regierenden Muslimbrüder die Hamas um ihren wichtigsten Verbündeten in der Region gebracht. Für den neuen Machthaber Abdel-Fattah al-Sisi waren nun auch die Islamisten in Gaza ein Feind.
Ein neues politisches Programm
Den Grenzverkehr zu Ägypten wie auch den Tunnelschmuggel, von dem die Hamas profitierte, ließ al-Sisi stark einschränken – als Druckmittel gegen die Hamas, die er so zwingen wollte, sich von den Muslimbrüdern und auch von ihren eigenen militanten Positionen gegenüber Israel zu distanzieren.
Das tat die Hamas auch, als sie im Mai 2017 ihr "Dokument“ veröffentlichte, das mit seinen 42 Artikeln durchaus den Charakter eines Grundsatzpapiers besaß. Es ist das erste seiner Art seit der Hamas-Charta von 1988, die seit Beginn des neuen Jahrtausends in der medialen Selbstdarstellung der Islamisten-Organisation kaum noch eine Rolle spielte. Auch wenn das neue "Dokument" die Charta nicht offiziell annulliert, wird die Version von 1988 darin doch in einigen wichtigen Punkten revidiert.
Das erklärte Ziel, Palästina mit Waffengewalt zu befreien, wird zwar nicht aufgegeben, und Palästina bleibt auch im neuen Programm ein als islamisch und arabisch definiertes Land, das den Palästinensern wie auch der islamischen Umma, also der Gemeinschaft aller Muslime, gehört.
Die Hamas bekämpft nun aber erklärtermaßen nicht mehr die Juden, sondern die Zionisten als Besatzer. Obwohl sie wie gehabt dem israelischen Staat das Existenzrecht abspricht und Anspruch auf das gesamte Gebiet des historischen Palästina erhebt, erklärt sie sich in dem "Dokument“ gleichzeitig bereit, einen Palästinenserstaat in den Grenzen von 1967 zu akzeptieren. Außerdem wurde in dem neuen Programm auf sämtliche frühere Bezugnahmen auf die ägyptischen Muslimbrüder wie auch auf die zahlreichen Koranzitate verzichtet.
Israels Politik
Die Veröffentlichung des Hamas-Programms tat das Büro des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu damals als "Augenwischerei“ ab. Dass Netanjahu an einer Beilegung des Konflikts mit der Hamas – deren "Vernichtung“ er im Wahlkampf 2009 zwar großspurig verkündet hatte, sie dann aber als Premier lieber nur durch überschaubare Militäroperationen in Schach hielt – nie wirklich Interesse hatte, ist in Israel eine Binsenweisheit.
Die Hamas als starke Rivalin des Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas bestehen zu lassen und so die palästinensische Spaltung aufrechtzuerhalten, um die Autonomiebehörde im Westjordanland zu schwächen, gehört schon seit Jahren zu Netanjahus Strategie.
In Jerusalem schmiedete man in den Jahren nach 2017, jetzt mit der besonders wohlwollenden Trump-Regierung, für die Palästinenser eigene Pläne. Trumps im Januar 2020 vorgelegter Friedensplan gestattete den Palästinensern – über deren Köpfe hinweg – zwar einen Staat. Dessen sämtliche Außengrenzen sollten aber unter israelischer Kontrolle stehen.
Die Palästinenser lehnten ab, weil der Plan zudem die Einverleibung von rund einem Drittel des Westjordanlands durch Israel einschließlich des Jordantals vorsah. Obgleich Trumps Nahostplan schon bald Geschichte war, nahm die von Netanjahu versprochene Ausweitung der israelischen "Souveränität“ auf die Siedlungen immer weiter Gestalt an.
Mit der Realisierung dieses Ziels befasst sich mittlerweile der Rechtsextremist und Doppelminister Bezalel Smotrich als Mitglied von Netanjahus rechtsreligiöser Regierung.
Gegen die fortschreitende De-facto-Annexion und die zunehmende Siedlergewalt richten sich seit Monaten die Proteste im Westjordanland. Die Hamas im isolierten Gazastreifen wollte als selbsterklärte Anführerin des bewaffneten palästinensischen Widerstands hier offensichtlich nicht im Abseits stehen. Ihr Großangriff auf israelische Militärbasen und Zivilisten im Grenzgebiet sollte diesen Führungsanspruch wohl erneut unterstreichen und größtmögliche Aufmerksamkeit erzeugen – auch daher seine erschreckende Brutalität.
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