Ökonomie der Disparitäten
Benjamin Netanjahu bleibt an der Macht. Das Ergebnis der jüngsten Parlamentswahl in Israel habe ihn nicht überrascht, sagt Shir Hever. "Der Wahlkampf basierte auf Angstmache und Rassismus – und diese Taktik hat letztlich funktioniert. Selbst diejenigen Israelis, die von Netanjahu nicht viel halten, haben ihn gewählt."
Mit Blick auf den Friedensprozess glaubt der israelische Wirtschaftswissenschaftler, der gegenwärtig in Deutschland lebt und arbeitet, nicht mehr an eine Zweistaatenlösung: "Seien wir ehrlich: Faktisch leben Israelis und Palästinenser in einem Staat. Ein zusammenhängender Staat für alle, in dem Juden und Palästinenser als gleichberechtigte Bürger mit vollen demokratischen Rechten zusammenleben, wäre aus meiner Sicht die beste Lösung – sowohl politisch als auch wirtschaftlich. Doch ob die Palästinenser an der Zweistaatenlösung festhalten wollen, oder ob sie sich für volle Bürgerrechte in einem gemeinsamen Staat einsetzen, das müssen sie selbst entscheiden", so Hevers Einschätzung.
Intensive Forschungsarbeit
Shir Hever, der zur Zeit an der Universität Göttingen über die Privatisierung der israelischen Sicherheitsindustrie forscht, hat in seinem Buch die Strukturen und Entwicklungslinien herausgearbeitet, die die wirtschaftliche Dimension der israelischen Besatzung in den palästinensischen Gebieten ausmachen. Nur wenn man diese wirtschaftliche Dimension verstehe und angemessen berücksichtige, sei eine politische Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes denkbar.
Zudem habe die politische Ökonomie der Besatzung globale Implikationen, die nicht nur im Nahen Osten für die Zukunft von Demokratie und Menschenrechten von Bedeutung seien. Das Material für sein Buch hat Hever in jahrelanger Forschungsarbeit gemeinsam mit palästinensischen und israelischen Wissenschaftlern zusammengetragen. Nach dem Studium in Tel Aviv arbeitete der Wirtschaftswissenschaftler mehrere Jahre als Experte am renommierten "Alternative Information Center", einer palästinensisch-israelischen Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Jerusalem und im palästinensischen Beit Sahour im Westjordanland.
Fragwürdige Entwicklungszusammenarbeit
Im ersten, beschreibenden Teil seines Buches schildert Hever die aus seiner Sicht bestimmenden Faktoren der Besatzungsökonomie. Im Vordergrund steht dabei die internationale Unterstützung für Palästina und Israel. Hever stellt fest, dass die ausländischen Hilfen zu einem prägenden Faktor vor allem der palästinensischen Wirtschaft, indirekt aber auch der israelischen Wirtschaft geworden sind. In ihrer derzeitigen Form stärke die internationale Entwicklungszusammenarbeit nicht das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser, sondern sie helfe der israelischen Regierung, das Besatzungsregime zu stärken und zu verstetigen.
Weitere Themen des Kapitels sind die künstlich geschürte Inflation in den besetzten Gebieten und die Kosten der Besatzung. Hever widerspricht im Interview mit Qantara.de der Ansicht, dass Israel als Ganzes einen unmittelbaren wirtschaftlichen Gewinn aus der Besatzung ziehe: "Das war in den ersten beiden Jahrzehnten, bis 1987 zutreffend. Doch als der palästinensische Widerstand sich besser organisierte, setzte eine Spaltung in der israelischen Gesellschaft ein. Eine kleine Minderheit profitierte weiterhin von der Besatzung – vor allem Firmen, die Baumaterial, Rüstungsgüter und Sicherheitstechnologie fabrizieren." Doch die Mehrheit der Israelis zahle wirtschaftlich drauf, so Hever: "Das sieht man unter anderem an der sich verschlechternden sozialen Lage. Die israelische Regierung zahlt massive Subventionen für die Kolonien."
In seinem Buch beschreibt Hever, wie die schnell fortschreitende Enteignung in den palästinensischen Gebieten mit einer neoliberalen Neuausrichtung der israelischen Gesellschaft und Wirtschaft einherging – ein Trend, der in den vergangenen Jahren unter anderem dazu führte, dass wichtige Bereiche wie das Bildungs- und Gesundheitswesen, aber auch der soziale Wohnungsbau vernachlässigt wurden. Das gelte auch für die palästinensischen Gebiete: Eine kleine Anzahl von Palästinensern wurde im Zuge des Besatzungsregimes reich, während das Gros der Palästinenser unter die Armutsgrenze rutschte, so der Wirtschaftswissenschaftler.
Globale Aspekte der Besatzungsökonomie
Hever beschränkt sich bei seiner Analyse nicht nur auf den geographischen Raum Israel und Palästina, sondern richtet den Blick auch auf globale Aspekte der israelischen Besatzungsökonomie. Ob Waffen, Mauern, Zäune, Wachtürme, Kameras, Sensoren oder die Drohnen, mit denen Tag und Nacht jede noch so kleinste Bewegung der palästinensischen Bevölkerung überwacht wird: Die einzelnen Bestandteile des umfassenden Kontrollsystems, das Israel in den besetzten Gebieten installiert hat, werden mittlerweile weltweit als Exportartikel angeboten – zur Aufstands- und Protestbekämpfung.
Potenzielle Kunden sind nicht nur Diktaturen, sondern auch demokratische Regierungen. Damit habe der israelisch-palästinensische Konflikt eine wichtige globale Bedeutung erlangt, mahnt Hever. "Man wirbt damit, dass man die Technologie bereits am lebenden Objekt getestet habe. Dann verkauft man diese Technologie und später wird sie dazu benutzt, die Privatsphäre und die bürgerlichen Rechte von Menschen überall auf der Welt zu verletzen."
Vor diesem Hintergrund sei auch der Umgang mit Gaza zu sehen: "Ich glaube nicht, dass es Pläne für den Wiederaufbau gibt oder dass die israelische Führung überhaupt irgendwelche langfristigen Pläne hat, was mit Gaza passieren soll", so Hever. "Die Lage der Menschen im Gazastreifen ist absolut katastrophal, aber daran wird sich nichts ändern. Bei der nächsten Gelegenheit wird man wieder einen Vorwand suchen, um Gaza zu bombardieren."
Ein weiteres Kapitel behandelt die Auswirkungen der Mauer und die Situation in Ostjerusalem, wohin die palästinensische Bevölkerung des Westjordanlandes seit Jahren nicht mehr einreisen darf. Die wirtschaftlichen Verluste als Folge der durch die Mauer entstandenen Separierung beziffert Hever allein für Jerusalem auf 200 Millionen US-Dollar jährlich. Unterm Strich seien die Kosten der Besatzung für alle Seiten verheerend hoch.
Im zweiten, wesentlich kürzeren Teil des Buches diskutiert Hever die Frage, warum Israel sich die Besatzung trotzdem leistet, und warum der Besatzung der Vorrang vor ökonomischem Profit eingeräumt wird. Hever ist der Ansicht, dass Israel sich von allen anderen Ländern unterscheidet. Er schreibt: "Es ist ein Projektstaat (Hervorhebung im Original) in dem das Projekt, der Zionismus, Vorrang vor den Bedürfnissen des Staates Israel und der Gesellschaft hat".
Auf dem Weg zur Einstaatenlösung?
Abschließend diskutiert Hever mögliche Zukunftsszenarien. Der von der palästinensischen Führung nach wie vor propagierten Zweistaatenlösung sieht er skeptisch entgegen. Politisch realistischer und für alle Seiten wirtschaftlich interessanter sei die Einstaatenlösung – ein Konzept, dem nach Einschätzung und Beobachtung Hevers auch immer mehr palästinensische Akteure zustimmen.
Doch gerade dieses Szenario sei für die aktuelle israelische Führung eine Bedrohung, denn damit steige die Wahrscheinlichkeit, dass nichtjüdische Teile der Bevölkerung den jüdischen Charakter des Staates in Frage stellten.
Shir Hevers Buch ist aufgrund der vielen theoretischen Exkurse nicht leicht zu lesen. Zudem bedürfen viele Zahlenangaben und Grafiken der Aktualisierung. Dennoch lohnt sich eine Lektüre des Buchs, denn es beschreibt detailliert Sachverhalte, zu denen einschlägig Interessierte im deutschen Sprachraum sonst kaum einen Zugang haben.
Martina Sabra
© Qantara.de 2015
Shir Hever: "Die politische Ökonomie der israelischen Besatzung", aus dem Englischen von Heidi Niggemann und Angelika Seyfrid, ISP Verlag, 263 Seiten, Oktober 2014, ISBN 978-3-89900-140-2