Djerbas einzigartige Feierlichkeiten
Noch ist die Synagoge ein ruhiger Ort. Doch zum Start der internationalen jüdischen Wallfahrt ab dem 14. Mai werden laut den Veranstaltern wieder mehrere tausend Gläubige in dem Gotteshaus auf der Insel Djerba erwartet. Rund acht Tage haben die Pilger in Tunesien Gelegenheit, an religiösen Feierlichkeiten teilzunehmen - in diesem Ausmaß zum ersten Mal seit zwei Jahren. Denn 2020 und 2021 waren die Pilgerfahrten aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt beziehungsweise der Zugang stark limitiert worden. Man rechne nun aber wieder mit vier- bis fünftausend Besuchern aus mehreren Ländern, sagt Perez Trabelsi, Präsident der jüdischen Gemeinschaft auf Djerba und Vorsitzender des Organisationskomitees, im Gespräch mit der Deutschen Welle.
Die Synagoge auf Djerba, eine der ältesten in ganz Afrika, ist eine uralte jüdische Pilgerstätte. Erbaut wurde El Ghriba, wie sie auf Arabisch heißt, der Legende nach auf Bruchstücken des ersten Tempels in Jerusalem. Jüdische Flüchtlinge sollen diese nach der Zerstörung des Gotteshauses im Jahr 586 vor Christus auf ihrer Flucht bis nach Tunesien mitgebracht haben.
Heute leben auf Djerba rund eintausend tunesische Juden, im gesamten Land sind es nur wenige mehr. Damit gilt die jüdische Gemeinde dort als die größte in Tunesien und als zweitgrößte der arabischen Welt, übertroffen nur von der in Casablanca, die zwischen 1500 und 2000 Mitglieder zählt.
Schwierige Heimat
Nach der Unabhängigkeit Tunesiens im Jahr 1956 hatten viele tunesische Juden ihr Heimatland verlassen. Zum einen reagierten sie damit auf die ökonomisch schwierige Situation jener Jahre, zum anderen wuchsen die Spannungen zwischen ihnen und ihren mehrheitlich muslimischen Mitbürgern nach der Staatsgründung Israels 1948 und der folgenden militärischen Auseinandersetzungen. Diskriminierung und Auswanderungsdruck nahmen zu.
Eine zweite größere Auswanderungswelle setzte nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 ein. Der Nahost-Konflikt beeinflusste immer wieder das Leben und die Sicherheit der Juden in Tunesien, bis hin zu gewaltsamen Ausschreitungen, bei denen Menschen starben. Die tunesische Regierung verurteilte zwar verbal die Gewalt, doch den Exodus verhinderte sie nicht. Die Auswanderung hatte demographisch enorme Folgen: Noch in den 1950er Jahren lebten rund 100.000 Juden in Tunesien, grob gerechnet etwa einhundert Mal so viele wie heute.
2002 wurde die Synagoge Ziel eines terroristischen Anschlags. Damals rammte ein mit 5000 Litern Flüssiggas beladener Lastwagen das Gotteshaus. Durch die Explosion starben 19 Menschen, unter ihnen 14 Touristen aus Deutschland. Die islamistische Terrororganisation Al-Kaida bekannte sich zu dem Anschlag. Im Januar 2018 gab es zudem einen Brandanschlag auf eine jüdische Schule auf Djerba. Er verursachte leichten Sachschaden.
Präsident hat sich gegen Israel positioniert
Auch in der Gegenwart ist das jüdisch-muslimische Verhältnis in Tunesien immer wieder Belastungsproben ausgesetzt. Wie in vielen Ländern der Region unterscheiden auch in Tunesien nicht alle Bürger immer trennscharf zwischen Juden und Israelis.
Der derzeitige Präsident Kais Saied hatte - bevor er im Oktober 2019 ins Amt gewählt wurde - erklärt, er würde niemandem mit israelischem Pass erlauben, Tunesien zu betreten - nicht einmal, um die Synagoge in Djerba zu besuchen. Damit protestierte er offenkundig gegen den Normalisierungsprozess zwischen Israel und einigen arabischen Staaten, darunter Tunesiens Nachbar Marokko. Formal festgehalten ist diese Annäherung in den sogenannten Abraham-Abkommen, die Saied laut Medienberichten seinerzeit als "Hochverrat" bezeichnete.
Was das Verhältnis zu Israel betrifft, so hatte Tunesiens Außenministerium im Sommer vergangenen Jahres ausgeschlossen, diplomatische Beziehungen zu Israel aufzunehmen - obwohl die Einreise von Israelis in der Vergangenheit in einigen Ausnahmefällen toleriert wurde.
Willkommen sind Israelis keineswegs überall im Land: Als es im Mai vergangenen Jahres zu schweren Kämpfen zwischen Israel und der islamistischen Hamas kam, brachten viele Tunesier bei Kundgebungen ihre Solidarität mit den Palästinensern zum Ausdruck. Im Frühjahr 2022 wurde im Land der neu verfilmte Agatha-Christie-Klassiker "Tod auf dem Nil" verboten. Offensichtlicher Grund: Hauptdarstellerin Gal Gadot stammt aus Israel.
Lob der Koexistenz
Viele Juden in Tunesien bemühen sich, möglichst unpolitisch zu bleiben. Sie betonen Beispiele für erfolgreiche gesellschaftliche Koexistenz von Juden und Muslimen. So erklärt der Oberrabbiner von Tunesien, Haïm Bitan, gegenüber der Deutschen Welle, das Verhältnis zur muslimischen Bevölkerungsmehrheit sei weitgehend spannungsfrei: "Die Koexistenz hat es immer schon gegeben. Muslime, Christen und Juden leben in denselben Vierteln, ohne Probleme miteinander zu haben."
Auch der Chef der Gemeinde auf Djerba beschwört das gute Verhältnis - und nennt als Beispiel dafür die Vorbereitung der Wallfahrt: Zu ihrem Gelingen trügen auch viele tunesische Muslime bei, versichert Perez Trabelsi. "Ich selbst lebe mehr unter muslimischen als unter jüdischen Tunesiern", beschreibt er die Situation vor Ort. "Auch die meisten Menschen, mit denen ich in der Synagoge zusammenarbeite, sind Muslime." Bei jüdischen Feiern, lobt Trabelsi, machten muslimische Tunesier rund ein Drittel der Besucher aus. "Sie kommen hierher, um die Feierlichkeiten anzuschauen und daran teilzunehmen. Es ist darum ein einzigartiges Ereignis."
Dürfen Israelis zur Pilgerfahrt einreisen?
Ob sich die Irritationen auf der Bühne der Nahostpolitik und frühere Aussprüche des Präsidenten in diesem Jahr auch auf die Präsenz israelischer Pilger auswirken werden, scheint derzeit noch offen. Es sei noch nicht klar, ob auch Juden aus Israel nach Tunesien kämen, sagt Trabelsi der Deutschen Welle wenige Tage vor Beginn der Pilgerfahrt. Derzeit gebe es Komplikationen im Zusammenhang mit den Visa. "Wir haben noch keine Informationen von der Regierung", aber es habe schon viele Anfragen gegeben: "Aber wegen der Sensibilität des Themas wollen wir selbst natürlich keine Verwirrung stiften." Ob Israelis diesmal teilnehmen können, konnte die Deutsche Welle bis zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Artikels nicht verifizieren.
Juden tunesischen Ursprungs lebten heute in zahlreichen Ländern, darunter auch Israel, betont der Präsident der jüdischen Gemeinde. "Sie alle haben das Recht, Djerba und die Synagoge unabhängig von ihrem politischen Hintergrund zu besuchen. Ob ein Besucher aus Israel oder einem anderen Land kommt, geht uns nichts an. Es geht immer um die einzelne Person."
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