Annemarie Schimmels wegweisender Blick auf den Islam
Um die Bedeutung Annemarie Schimmels zu erkennen, genügt schon der Hinweis, dass sie die erste Frau war, die sich in den Islamwissenschaften einen Namen und Karriere machte — nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Und dennoch verstrich ihr 100. Geburtstag am 7. April fast ohne jede Würdigung. Gibt es heute nicht viel Wichtigeres, den Krieg?
Ich bewundere Annemarie Schimmel für ihre Hartnäckigkeit. Sie schaffte es, sich in einem von eitlen, sehr eitlen Männern dominierten akademischen Milieu durchzusetzen und bekannter zu werden, als sie alle zusammen. Von all den kleinen Erniedrigungen, die sie dafür durchmachen musste, berichtet sie in ihrer Autobiographie "Morgendland und Abendland. Mein west-östliches Leben“(CH Beck 2002); etwa der Verniedlichung ihrer Person und ihres Namens als "Fräulein“, als "Schimmelin“ oder "Cemile“ und "Djamila“.
Auch wenn das übersetzt "die Schöne“ heißt, reduzierte es sie doch auf eine Äußerlichkeit. Hätte man dergleichen bei einem hochbegabten, aufstrebenden Mann gewagt? "Die Männer sind unsere Feinde“, zitiert Schimmel eine feministische Freundin.
Dabei war sie seit ihrem Studium in Berlin während des Zweiten Weltkriegs in der deutschen Orientalistik bestens vernetzt. Bereits 1941, mit 19 Jahren, promovierte sie (heute unvorstellbar); und im März 1945, mitten in den Wirren des Kriegsendes, reichte sie ihre Habilitationsschrift ein. Dennoch erhielt sie erst 1961 in Bonn einen halbwegs angemessenen akademischen Posten.
Annmarie Schimmel war die erste Islamwissenschaftlerin, die überhaupt von sich reden machte. Wie sehr die Frauen in dieser Wissenschaft fehlten, merken wir daran, dass von den Dutzenden von Koranübersetzungen in europäische Sprachen erst in jüngster Zeit auch solche von Frauen erschienen sind (von Angelika Neuwirth, Lamya Kaddor und Rabea Müller). Die närrische Idee patriarchal geprägter Kulturkreise, wie bis in jüngste Zeit auch dem westlichen, dass das Heilige Männersache ist, entlarvt sich an diesem Beispiel selbst.
Annemarie Schimmel hat das Studium der Islamwissenschaften für Frauen normalisiert. Die Generation nach ihr hat zahlreiche bedeutende Islamwissenschaftlerinnen hervorgebracht. Sie alle dürfen sich auf die eine oder andere Weise als Erbinnen von Annemarie Schimmel betrachten.
Begeisterung für Literatur
Mit ihren Übersetzungen und Büchern hat sie auch meinen Weg als Islamwissenschaftler gebahnt. Annemarie Schimmel war eine der ersten und wenigen ihrer Generation, die sich für die zeitgenössische muslimische Welt nicht als totes philologisches Material oder als politischen, soziologischen Problemfall interessierten, sondern die sich für deren zeitgenössische Literatur begeistern konnten. Annemarie Schimmel beschäftigte sich nicht bloß mit den Klassikern der orientalischen Literaturen, sondern auch mit den Dichterinnen und Dichtern ihrer eigenen Generation, ja sogar mit jüngeren.
Das war etwas völlig Neues, geradezu Unerhörtes! Die islamische Welt wurde zur Zeitgenossin, und zwar nicht als politischer Problemfall, sondern als lebendige, gegenwärtige Kultur auf Augenhöhe mit unserer. Sie publizierte bereits 1975 eine Anthologie mit Übersetzungen zeitgenössischer arabischer Lyrik. Nie betrachtete sie ihre arabischen, türkischen, iranischen, pakistanischen Bekannte und Freunde als bloße Auskunftsgeber ("native informants“), geschweige denn als "Objekte“ anthropologischer, ethnologischer, soziologischer oder politologischer Forschung, wie es heute noch oft der Fall ist.
Indem Annemarie Schimmel die Distanz aufgab, die viele in ihrer Zunft von den "Gegenständen“ trennte, eine Distanz, die häufig als wissenschaftlich nötig, als "objektiv“ verbrämt wird, ragte sie weit über ihre Zeit hinaus.
Die Friedenspreis-Debatte
Trotz aller vorausweisenden Aspekte ihres Werks stand sie jedoch auf der anderen Seite eines Bruchs, der ein gradliniges Weitergehen für uns spätere schwierig machte. Dieser Bruch ist nicht erst mit den Anschlägen vom 11. September 20011 bezeichnet, sondern wurde für Annemarie Schimmel bereits zuvor offensichtlich: In Gestalt der Kampagne, die gegen sie geführt wurde, als sie 1995 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt.
Man warf ihr vor, im Fall der Todesfatwa, die Ayatollah Khomeini in Iran gegen den britisch-indischen Schriftsteller Salman Rushdie ausgesprochen hatte, für den Autor des Romans "Die satanischen Verse“, nicht entschieden genug Position bezogen zu haben, ja für die Empörung mancher Muslime ungebührlich viel Verständnis gezeigt zu haben.
Damit kündigten sich die ideologischen Auseinandersetzungen an, die nach 9/11 die deutsche und euro-amerikanische Politik bestimmten. Es genügte für Annemarie Schimmel nicht, klar gegen Khomeinis Fatwa Stellung zu beziehen. Sie sollte auch der Empörung gläubiger Muslime jede Berechtigung, ja den Anlass absprechen; das heißt, sie sollte der gewohnten westlichen Arroganz und Ignoranz ihren Segen erteilen.
Da sie sich weigerte, wurde sie zur Projektionsfläche für ein neu aufkommendes Feindbild, das uns bis heute im Griff hält und wesentlich dazu beigetragen hat, den viel gefährlicheren Feind im Osten Europas zu übersehen.
Verlust der Unschuld
Der Streit um den Friedenspreis für Annemarie Schimmel war natürlich nicht die Ursache, sondern nur ein Symptom für den Bruch, auf dessen anderer Seite Annemarie Schimmel stand, der aber für meine Generation und alle danach kaum noch zu überwinden war. Worin bestand dieser Bruch also eigentlich, was war seine Ursache?
Er bestand, einfach gesagt, darin, dass es schon zu Annemarie Schimmels Lebzeiten keinen unschuldigen Blick mehr auf den Islam und die islamische Welt, auf die arabische Welt, auf den "Orient“ geben konnte, während doch die islamwissenschaftliche Perspektive und Praxis von Annemarie Schimmel diesen arglosen, unvoreingenommenen Blick zur Voraussetzung hat.
Aus einer gnadenlos objektivierenden "wissenschaftlichen“ Distanz; oder aber aus einer ebenso gnadenlosen Kultur des Verdachts, der Unterstellung und des Argwohns heraus sind fremde kulturgeschichtliche Phänomene nicht angemessen zu begreifen und nachzuvollziehen, geschweige denn zu bewundern; sie bleiben totes Material, ein bloßes Objekt einer Obduktion.
Der Edward-Said Schock
Den stärksten Ausdruck und die einleuchtendste Begründung dieses Argwohns, der im übrigen auf Wechselseitigkeit beruht, fand der amerikanisch-palästinensische Kulturwissenschaftler Edward Said, ein Zeitgenosse, ja Ivy-League-Kollege von Annemarie Schimmel.
Mit Edward Saids 1978 publiziertem Buch "Orientalism“, dem Paukenschlag der postkolonialen Theorie, endete die Epoche der vermeintlichen Unschuld, bekam der in den Verwerfungen der Kolonialzeit wurzelnde Bruch die nötige Erhellung und Theorie.
Freilich meinte Edward Said, als er den "Orientalismus“ demontierte, nicht nur die akademische Islamwissenschaft, und erst recht nicht die Art und Weise, wie Annemarie Schimmel sie praktizierte. Ohnedies sparte er den deutschen Orientalismus gnädigerweise aus, zum einen, weil er kein Deutsch konnte, zum anderen, weil die streng philologische Prägung der deutschen Orientwissenschaften weniger Angriffsfläche bot als die dezidiert machtpolitische der anderen, älteren Kolonialmächte.
Annemarie Schimmel könnte uns daher als gutes Beispiel dafür dienen, wo Edward Said über das Ziel hinausschießt oder schlicht falsch liegt. Eine rassistische Abwertung des Islam finden wir bei ihr ebenso wenig wie eine Wissenschaft, die machtpolitisch ohne weiteres instrumentalisierbar gewesen wäre. Während Annemarie Schimmel sich also zurecht von Said nicht getroffen fühlen musste, ist es doch so, dass auch sie in einer Tradition und in einem Umfeld arbeitete, das aus anti-imperialistischer, postkolonialer Perspektive, wie Edward Said sie vertrat, zu Recht verdächtig geworden war.
Der Islamwissenschaft kam damit in progressiven Kreisen ihr Gegenstand abhanden, er wurde fraglich, fragmentierte, atomisierte sich. In der daraus resultierenden, oft schwer zu durchschauenden ideologischen Gemengelage war für eine Vision des Islam, wie Annemarie Schimmels sie hegte, plötzlich kaum noch Raum, wie die Aufregung anlässlich des Friedenspreises dann zeigte.
Romantische Sicht
In zwei sehr einfachen Stichworten können wir diese Vision eine sowohl liebende, begeisterte als auch eine romantische, romantisierende Sicht auf den Islam nennen. Damit unterlief sie die spätere Kritik am Orientalismus durch Edward Said und die postkoloniale Theorie ebenso wie die seit jeher in den Islamwissenschaften residierende Abwertung ihres Gegenstandes aus der Zeit christlicher anti-Islam Propaganda.
Sie unterlief damit aber auch eine uns selten bewusst werdende Form des intellektuellen Imperialismus, der in der unkritischen Feier der Fortschrittsmoderne besteht, in einer Abwertung von allem, was aus deren Perspektive vormodern anmutet, nicht auf der Höhe der Zeit, unterentwickelt, zurückgeblieben. Seit der Aufklärung geht diese Fortschrittsmoderne mit einer Abwertung von Religion, Mystik und Ästhetik einher — all dessen also, was die Welt verzaubern will oder verzaubern könnte; all dessen auch, dem Annemarie Schimmel ihr Werk gewidmet hat.
Ich beneide Annemarie Schimmel darum, noch so gut wie fraglos und selbstverständlich in diesem Zusammenhang gelebt und gewirkt zu haben. Wenn wir hundert Jahre nach Annemarie Schimmels Geburt auf ihr Werk schauen, ist das der Graben, den wir versuchen müssen zu überwinden, sofern uns an einer lebenswerten gemeinsamen Zukunft gelegen ist. Annemarie Schimmel zu lesen ist die beste Vorschule dafür.
© Qantara.de 2022
Stefan Weidner ist Autor und Islamwissenschaftler. Der Text ist die Kurzfassung eines Festvortrags, den der Autor am 23. April 2022 zu Schimmels Geburtstag an der Uni Erfurt gehalten hat. Die Originalfassung erscheint im August im "Bernstein-Regal“, der Schriftenreihe des Bernstein Verlags.