Risse in der deutschen Gesellschaft
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte zur offenen Diskussion eingeladen, aber zum Auftakt gab es zunächst einige Ansagen des deutschen Staatsoberhaupts: "Wir werden Antisemitismus nicht dulden in diesem Land", hieß die erste. Steinmeier versicherte Jüdinnen und Juden, "dass dieses Land nicht ruhen wird, solange Sie um Ihre Sicherheit und die Sicherheit Ihrer Kinder fürchten müssen."
Die zweite Ansage richtete sich an die "palästinensische Gemeinschaft" im Land: "Es darf keinen antimuslimischen Rassismus und auch keinen Generalverdacht gegen Muslime geben." Diese Ansage verknüpfte der Bundespräsident allerdings mit einem Appell: "Lassen Sie sich von den Helfershelfern der Hamas nicht instrumentalisieren. Sprechen Sie für sich selbst. Erteilen Sie dem Terror eine Absage."
Alarmierende Zunahme antisemitischer Gewalt
Deutschland erlebt im Herbst 2023 hitzige Debatten über den Krieg in Nahost. Seit dem Angriff der islamistischen Palästinenserorganisation Hamas am 7. Oktober auf Israel berichten Experten von einer alarmierenden Zunahme antisemitischer Gewalt.
Es kam zu aufgeheizten pro-palästinensischen Demonstrationen - begleitet von massiven Polizeieinsätzen. Jüdinnen und Juden trauen sich teilweise nicht mehr aus dem Haus und fürchten um die Sicherheit ihrer Kinder. Gleichzeitig beklagen muslimische Verbände einen Generalverdacht gegen Migranten und zunehmende Ausgrenzung.
Da wollte der Bundespräsident ein Zeichen setzen. "Krieg in Nahost: Für ein friedliches Zusammenleben in Deutschland" - unter diesem Titel setzte sich Steinmeier mit zwölf Menschen in seinem Amtssitz Schloss Bellevue an einen Tisch: die Hälfte der Gäste jüdischen Glaubens, die andere Hälfte muslimisch. Sie alle repräsentierten Projekte zur jüdisch-muslimischen Zusammenarbeit.
Was die Gäste dem Bundespräsidenten zu berichten hatten, ist bedrückend. Sie beobachteten einen tiefen Riss, der durch die Gesellschaft gehe. Der sei nicht neu, aber tiefer als vor dem 7. Oktober. Die Emotionen in den jeweiligen Gemeinschaften kochen hoch.
Michael Fürst ist der Vorsitzende der jüdischen Gemeinden im Bundesland Niedersachsen. Seit Jahren wirbt er für den Dialog zwischen Juden und Palästinensern. Jetzt, erzählt er Steinmeier, "sagen mir viele Gemeindemitglieder, dass sie das Projekt als Show erleben". Was in Israel mit dem Angriff der Hamas, die von vielen Staaten als terroristisch eingestuft wird, passiert ist, sei für sie "ein Dammbruch - der größte Mord an Jüdinnen und Juden seit dem Holocaust." Viele Jüdinnen und Juden würden sich in ihre Gemeinschaft zurückziehen. Der Dialog sei wichtig, aber derzeit sehr schwierig geworden.
Generalverdacht gegen Muslime und Einwanderer
Ähnliche Erfahrungen hat auch Derviş Hızarcı gemacht. Der Berliner Sohn türkischer Einwanderer leitet das Berliner Projekt "Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus". Das kämpft in der migrantischen muslimischen Gemeinschaft der Hauptstadt gegen Hass und Vorurteile.
"Wir haben in den vergangenen Wochen 500 Anfragen von Lehrerinnen und Lehrern bekommen, wie sie an ihren Schulen mit dem Konflikt umgehen sollen", berichtet er Steinmeier. Die Stimmung an vielen Schulen sei aufgeheizt. Die migrantisch-muslimischen Kinder fühlen sich durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft unter einen Generalverdacht gestellt. Und die Schulen seien überfordert damit, das Thema Antisemitismus zu behandeln. "Wenn wir diese Kinder und Jugendlichen stigmatisieren, wenn wir es nicht schaffen, sie einzubeziehen, dann brechen die Kinder mit Deutschland", warnte er eindringlich.
Steinmeier hält sich in dem Dialog zurück. Er konzentriert sich auf Fragen an seine Gäste. Die 102-jährige Holocaust-Überlebende Margot Friedländer fragt er, was sie Jüdinnen und Juden sagen würde, die Zweifel haben, ob man in Deutschland noch leben könne. Bei anderen Teilnehmern hakt er nach, ob ihre Projekte unter der aktuellen Lage leiden. Gelegentlich mahnt er dabei Empathie an und lobt die Initiativen für ihren Mut und ihre Arbeit.
Und er versichert allen Seiten ihre Zugehörigkeit zum Land. "Das Deutschland von heute ist ein weltoffenes, vielfältiges Land." Er versucht, zu ermutigen und moralisch zu unterstützen. Seine Gäste würdigen das. Aber gleichzeitig scheint die Realität niederschmetternd.
Gerade erst am Vortag hatten mehrere Verbände und Wissenschaftler ein düsteres Bild bezüglich antisemitischer Vorfälle in Deutschland gezeichnet. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung und der Leiterin der Holocaust-Gedenkstätte "Haus der Wannseekonferenz", bilanziert der Projektleiter der Amadeu-Antonio-Stiftung, Nicolas Lelle, in seinem "Lagebild Antisemitismus" bitter: "Antisemitismus hat einen Platz in Deutschland."
Die Expertinnen und Experten beobachten mit Sorge, dass die Ächtung mittlerweile aufweicht. Die Wissenschaftlerin Beate Küpper warnt auf der Pressekonferenz davor, angesichts der aktuellen Lage in Nahost den Fokus ausschließlich auf muslimisch migrantische Personen zu legen: "Das ist richtig und wichtig, darf aber nicht davon ablenken, dass Antisemitismus vor allem rechts der politischen Mitte zu verorten ist." Und mit der AfD gebe es eine rechte Partei, die für die Risse in der deutschen Erinnerungskultur verantwortlich sei.
"100 Milliarden für Bildung gegen den Hass!"
Was tun im Kampf gegen Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit? Am Runden Tisch des Bundespräsidenten herrscht in einem Punkt Konsens: Ohne Bildung läuft nichts. Dabei ist die Enttäuschung der Gäste über die Politik laut und deutlich: Sie beklagen, das Thema werde seit Jahren nicht wirklich ernstgenommen, es fehle an allen Ecken und Enden an guten Angeboten, gerade auch bei wichtigen Themen wie Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit. Und dass die Folgen kaum abzusehen seien: "Wenn wir jetzt nicht sofort 100 Milliarden Euro in die Hand nehmen und sofort in Bildung investieren, dann kriegen wir das alles nicht eingefangen", warnt Derviş Hızarcı. "Diese Risse in der Gesellschaft sind genauso existenziell wie die Klimakrise."
Zum Abschluss der Begegnung mit Frank-Walter Steinmeier hat Hizarci einen Appell an den Bundespräsidenten: "Herr Steinmeier, lassen Sie zu einem 'March of Silence' aufrufen. Lassen Sie uns zusammen auf die Straße gehen und zum Ausdruck bringen, was für einen Schmerz wir empfinden." Dafür bekam er einen wohlwollenden Dank des deutschen Staatsoberhauptes. Eine Zusage aber nicht.
Hans Pfeifer
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