"Keine Gräueltat rechtfertigt eine andere Gräueltat"
Anfang Dezember 2023 kamen immer mehr Berichte über systematische sexualisierte Gewalt durch die Hamas am 7. Oktober ans Tageslicht. Sie haben damals in einem Tweet geschrieben: "Ist sexualisierte Gewalt in Kriegszeiten ein schreckliches Verbrechen? JA, ohne Frage. Aber ‘sexueller Exzeptionalismus’ wird traditionell auch verwendet, um Unterstützung für Militärkampagnen zu erzeugen.“ Was meinen Sie mit "sexuellem Exzeptionalismus”?
Heidi Matthews: Unter “sexuellem Exzeptionalismus” (sex exceptionalism) verstehe ich die Vorstellung, dass Gewalt als schlimmer gilt und ein härteres Vorgehen erfordert, wenn Sex ins Spiel kommt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kritisieren dieses Konzept eines Strafrechtsfeminismus (carceral feminism) und stellen es in Frage ...
Strafrechtsfeminismus wiederum bezeichnet einen Feminismus, der an die strafrechtliche Autorität des Staates glaubt und längere Gefängnisstrafen fordert, statt an struktureller Ungleichheit zu arbeiten...
Matthews: Das betrachten wir kritischen feministischen Wissenschaftlerinnen und queeren Theoretiker sehr skeptisch. Wir wissen, dass schärfere Strafen im Allgemeinen nicht besser gegen sexualisierte Gewalt helfen. Erst recht nicht im Kontext von Krieg.
Statements für ein westliches Publikum
Was hat Sie dazu veranlasst, über "sexuellen Exzeptionalismus" im Kontext des Krieges in Gaza zu posten?
Matthews: Mit meinem Tweet habe ich auf den Beginn einer gezielten politischen Kampagne reagiert, die ich zu diesem Zeitpunkt beobachtet habe. Sie wurde von einer Reihe liberaler westlicher Feministinnen angesichts der Vorwürfe sexualisierter Gewalt durch die Hamas am 7. Oktober inszeniert, um die Fortsetzung und Intensivierung des Krieges in Gaza zu rechtfertigen.
Das war vor etwa zwei Monaten und die Fortsetzung des Krieges haben wir inzwischen erlebt. Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht und die humanitäre Krise im Gazastreifen hat sich dramatisch verschärft. Die Zahl der Toten und Verletzten in Gaza steigt täglich.
Warum wurden diese Vorwürfe ausgerechnet Anfang Dezember laut?
Matthews: Es gab diese Vorwürfe schon direkt nach dem 7. Oktober, doch zu dem Zeitpunkt wurden sie noch nicht so hervorgehoben wie zwei Monate später. Die große Kampagne begann Anfang Dezember. Zu diesem Zeitpunkt begann die Weltgemeinschaft gerade, ihre Meinung zum Gaza-Krieg zu ändern.
Deutlich mehr Menschen und Staaten forderten einen Waffenstillstand. Einige Staaten haben ihr Abstimmungsverhalten in der UN-Generalversammlung verändert. Zwar sind UN-Resolutionen nicht bindend, aber sie signalisieren doch eine Verschiebung der globalen öffentlichen Meinung. Die Vorwürfe sexualisierter Gewalt wurden also systematisch zu einem Zeitpunkt erhoben, als Israel sie politisch brauchte.
Koloniales Muster: Barbarei versus Zivilisation
Wie glauben Sie wurden die Vorwürfe für den Krieg genutzt?
Matthews: Sie passen in ein uraltes koloniales Muster von Machtausübung, denn sie bedienen das Schema von Barbarei versus Zivilisation. Die aufsehenerregende Art und Weise, wie die Vorwürfe präsentiert wurden, sollte Empörung und Schock bei den Lesern hervorrufen.
Die Darstellung erleichtert es der israelischen Regierung und ihren Sprechern, in Bezug auf die Hamas und die Palästinenser insgesamt eine entmenschlichende Rhetorik zu verwenden. Was bedeutet es denn, barbarisch zu sein? Es bedeutet, ungezügelte, sinnlose Gewalt auszuüben.
Und wie zeigen wir, dass Menschen Barbaren sind? Wir stellen sie als sexuell unersättliche arabische Männer dar. Wer sexualisierte Gewalt begeht, ist kein echter Mensch mehr, sondern wir haben es dann mit "menschlichen Tieren“ zu tun. So läuft dieser Gedankengang. Wir sollen glauben, dass wir es hier mit keiner normalen Bedrohung zu tun haben, sondern mit einer Bedrohung, die über alles hinausgeht, was ein legitimer politischer Akteur an den Tag legen würde.
Israels Staatspräsident Jitzchak Herzog bezeichnete die Hamas im Zuge seiner Kritik an Südafrikas Völkermord-Klage am Internationalen Gerichtshof (IGH) als "Vergewaltigungsmaschine“. Der Sprecher der israelischen Regierung Eylon Levy sprach sogar von einem "Vergewaltigungsregime“, das kleine Mädchen missbrauche.
Matthews: Es gibt zahlreiche offizielle Statements dieser Art. Sie sind vor allem für ein westliches Publikum gedacht, das eine bestimmte Haltung gegenüber Israel einnehmen soll. Niemand im Westen, dem selbsternannten Hort der Zivilisation, möchte als Unterstützer nicht nur von Terrorismus, sondern von Vergewaltigern gesehen werden.
Sexuelle Übergriffe sind im Narrativ des “sexuellen Exzeptionalismus” als besonders schlimm zu beurteilen. Und dann sehen wir, wie Israels Regierungssprecher Eylon Levy aus konkreten Fällen von sexualisierter Gewalt am 7. Oktober die allgemeine Behauptung "Hamas ist ein Vergewaltigungsregime“ macht.
Was soll das überhaupt heißen? Solche Begriffe schaffen im Kopf Bilder einer mächtigen Kraft, deren einziges Ziel ist, systematisch zu vergewaltigen. Dafür gibt es überhaupt keine Beweise.
Nichts rechtfertigt einen Krieg, der gegen das Völkerrecht verstößt
Was würde es denn ändern, wenn wir das Ausmaß der Hamas-Gewalt jetzt schon abschließend beurteilen könnten?
Matthews: Juristisch macht es keinen Unterschied. Das hat Südafrika auch vor dem IGH betont: Keine Gräueltat rechtfertigt eine andere Gräueltat. Egal, was am 7. Oktober passiert ist, und an dem Tag sind viele Gräueltaten passiert, nichts rechtfertigt einen Rachefeldzug.
Nichts, das die Hamas getan haben könnte, würde einen Krieg rechtfertigen, der gegen das Völkerrecht verstößt, also einen Krieg, der keinen Unterschied zwischen Kämpfern und Zivilisten macht. Israel behauptet, sich nur selbst zu verteidigen. Doch seine Kriegsführung ist unverhältnismäßig und basiert auf Rache. Das ist illegal und moralisch falsch.
Können Sie ein Beispiel von "sexuellem Exzeptionalismus" in einem anderen Konflikt geben?
Matthews: Wann immer man von sexualisierter Gewalt, oder sogar nur von Sex und Krieg zusammen spricht, ist das sehr spektatulär. Ich habe vor einiger Zeit darüber geschrieben, wie Deutschland Geschichten über massenhafte sexualisierte Gewalt an der Ostfront, als die Russen sich 1945 Berlin näherten, wieder aufgegriffen hat. Vor etwa zehn Jahren wurde das viel diskutiert.
Mich interessierten die Thesen von Feministinnen, die sagen, dass sexualisierte Gewalt 70 Jahre lang ignoriert wurde und dass das Thema heute aus politischen Gründen wieder mehr Aufmerksamkeit bekommen sollte. Bei meiner Recherche fand ich heraus, dass die erhöhte Aufmerksamkeit für diese historischen Vergewaltigungen nicht nur, aber vor allem in sehr rechten politischen Kreisen in Deutschland eine Rolle spielte.
Das Thema wurde damals vor allem von rechten Politikerinnen und Politikern bedient und verwendet, um zu argumentieren, dass die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Ostpreußen möglicherweise ein vergessenes Kriegsverbrechen oder sogar der schlimmste Aspekt des Krieges für Deutschland gewesen sei.
Ein deutscher Kriegsdiskurs
Wie über die Gewalteskalation in Israel und im Gazastreifen gesprochen wird, folgt in vielerlei Hinsicht einer bekannten strukturellen Dynamik von Diskursen in Kriegszeiten.
Ein weiteres Beispiel erwähnen Sie in einem kürzlich erschienen Artikel: 2011 wurden Behauptungen verbreitet, dass Libyens Machthaber Muammar al-Gaddafi Viagra an seine Soldaten verteilt hätte, um Massenvergewaltigungen zu unterstützen. Obwohl diese Anschuldigungen später widerlegt wurden, trugen sie entscheidend dazu bei, dass der Sicherheitsrat 2011 eine militärische Intervention unterstützte. Folgen diese Beispiele einem Muster?
Matthews: “Sexuellen Exzeptionalismus” gibt es nicht nur bei bestimmten politischen Gruppen. Er wird leicht als gesunder Menschenverstand angenommen, egal welche politische Position jemand hat. Aber es ist schon interessant, wie ein Verständnis von sexualisierter Gewalt als besonders brutaler Gewalt im Krieg benutzt wird, um konservative und oftmals extrem rechte politische Projekte zu unterstützen. Das sehen wir jetzt auch in Gaza.
Aber was ist denn die Alternative? Es ist doch wichtig, sexualisierte Gewalt im Kriegskontext zu dokumentieren, genauso wie andere Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Matthews: Man sollte sexualisierte Gewalt ermitteln, sie klar benennen, auf angemessene Weise bestrafen und Opfer und Überlebende unterstützen. Das ist aber etwas anderes, als sie für militärische Zwecke zu missbrauchen. Letzteres finde ich problematisch.
Sexualisierte Gewalt ist ein Völkerrechtsverbrechen und wenn am 7. Oktober sexualisierte Gewalt begangen wurde, dann muss diese verfolgt werden. Etwas anderes habe ich nie gefordert. Dennoch richte ich meine Aufmerksamkeit auch auf die Politik in dieser Situation und dabei stelle ich fest, dass die Vorwürfe benutzt werden, um einen möglichen Völkermord zu rechtfertigen.
Sexualisierte Gewalt bekämpfen
Wie kann man dann sexualisierte Gewalt im Krieg bekämpfen, ohne sie zur Rechtfertigung für militärische Interventionen zu missbrauchen?
Das geht nur, wenn sich Staaten an das Regelwerk der internationalen Rechtsordnung halten. Wenn sie ordnungsgemäß internationale Verbrechen aufklären, verfolgen und bestrafen.
Israel behauptet, die UN und andere internationale Organisationen würden schweigen, seien untätig und würden israelischen Frauen nicht glauben. Aber gleichzeitig weigert es sich, mit den internationalen Ermittlungsorganen zusammenzuarbeiten, die genau angesichts solcher Verbrechen geschaffen wurden.
Internationale Straftribunale breiten sich immer weiter aus. Sie sind nicht zuletzt wegen der Vorwürfe von sexualisierter Gewalt während der Kriege in Jugoslawien in den 1990er Jahren entstanden.
Es gibt jede Menge Expertise dazu, wie diese Verbrechen ermittelt und verfolgt werden können – und vielleicht noch wichtiger - wie konkrete Unterstützung für die Opfer aussehen kann. In Israel wird kritisiert, es seien nicht genügend Ressourcen für die Opfer des 7. Oktobers vorhanden. Das passiert, wenn das Hauptaugenmerk des Staates nicht auf der Unterstützung der Opfer und ihrer Familien liegt, sondern auf der Fortsetzung des Krieges.
Das Interview führte Hannah El-Hitami
© Qantara.de 2024
Heidi Matthews ist Professorin für Völkerrecht an der Osgoode Hall Law School in Kanada.