"Der Islam braucht seine eigene Aufklärung"
Herr Akyol, zu den Kernthemen Ihres Buches gehört die Frage nach einer “unsittlichen Religiosität”. Für viele Muslime ist ethisches Verhalten allein durch Religiosität möglich. Jemand, der regelmäßig betet, ist danach auch moralisch integer. In der Türkei sind seit etwa 20 Jahren Islamisten an der Regierung. Dennoch scheint die Gesellschaft ihren moralischen Kompass verloren zu haben. Wie ist das zu erklären?
In der Tat ist es eine weitverbreitete Sichtweise unter heutigen konservativen Muslimen, dass der liberale Westen hinsichtlich Wissenschaft und Technologie zwar fortgeschritten sei, “wir” aber tugendhafter sind und daher alles tun sollten, um unsere Sittlichkeit zu bewahren. Und da Muslime zudem oft Moralität mit religiöser Praxis und sexueller Sittsamkeit gleichsetzen, ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass daraus auch ein solches Denken entsteht.
Aber wenn wir Moralität an universelleren Werten wie Ehrlichkeit, Vertrauenswürdigkeit, Fairness, Unparteilichkeit oder dem Fehlen von Korruption und Vetternwirtschaft in einem politischen System messen, dann können wir nicht so zuversichtlich sein.
Ich kenne das aus der Türkei gut, wo "unsittliche Religiosität“ zur vieldiskutierten Charaktereigenschaft einer neuen herrschenden Elite geworden ist. Mit diesem Schlagwort sind konservative Muslime gemeint, die hinsichtlich religiöser Praktiken wie dem Tragen von Kopftuch oder dem Alkoholverzicht tatsächlich fromm sind, sich aber in ihrer Machtausübung durch zutiefst unethische Praktiken wie Korruption und Autoritarismus, einem arroganten verhalten, Grausamkeit, Betrug und vielen Arten eines hässlichen Machiavellismus auszeichnen.
In dem Kapitel "Wie wir die Moral verloren haben“ meines Buches beziehe ich mich genau auf diese türkische Tragödie. Die Gleichsetzung von Moral mit religiösen Ge- und Verboten ohne eine auf Prinzipien basierende ethische Haltung hat dieses Problem einer "unsittlichen Religiosität“ erst verursacht, nicht nur in der Türkei, sondern auch in vielen anderen muslimischen Gesellschaften. Der Weg in die Zukunft erfordert es, das religiöse Recht (im Islam die Scharia) wieder neu mit ethischen Werten zu verbinden, die als universell gelten.
Braucht Ethik die Religion?
Im Westen können wir beobachten, dass auch säkulare Menschen durchaus moralisch integer sein können. Widerspricht das nicht der muslimischen Vorstellung, dass Religion für die Moralität erforderlich ist?
Gewiss ist es der Fall: Die gelebte Erfahrung der Menschheit, insbesondere in der heutigen Zeit, zeigt, dass es keine einfache Korrelation zwischen ethischem Handeln und Religion gibt. Mit anderen Worten: Auch säkulare Menschen können durchaus moralisch einwandfrei handeln, manchmal tun sie es sogar noch mehr als Gläubige.Traditionalistische Muslime leugnen diese Tatsache bisweilen, aber nur, weil sie eine "göttliche Befehlsethik" vertreten.
Nach dieser theologischen Lehre sind menschliche Handlungen "gut" oder "schlecht", nicht aufgrund eines ihnen innewohnenden Wertes, den wir mit unserem Bewusstsein erfassen können, sondern nur, weil Gott dies sagt. So sind beispielsweise Diebstahl oder Mord nur deshalb schlechte Taten, weil Gott sie durch seine Offenbarung verurteilt. Wenn Gott uns aber gesagt hätte, dass dies gute Taten sind, dann wären sie auch gut.
In meinem Buch vertrete ich die Auffassung, dass diese theologische Doktrin - die vom Asch'arismus, der vorherrschenden theologischen Schule im Islam, aufgestellt wurde - die Wurzel vieler Probleme im religiösen Denken der Muslime heute ist. Ich zeige auch, dass es eine alternative Lehre gibt, die nicht weniger islamisch ist: die Lehre von der "objektiven Ethik".
Das bedeutet, Diebstahl oder Mord sind objektiv schlecht und deshalb hat Gott sie verurteilt. Aber selbst wenn wir nichts von Gott dazu hören würden, könnten wir es mit dem uns innewohnenden Bewusstsein und unseren moralischen Vorstellungen verstehen, dass diese Handlungen schlecht sind.
Die Lehre von der “objektiven Ethik” besagt, dass die Religion uns zwar dazu auffordert, ethisch zu handeln, die Ethik aber von universellen menschlichen Werten handelt, die über jede Religion hinausgehen. Ich glaube, dass die Wiederbelebung dieser Lehre der Schlüssel zu jeder sinnhaften religiösen Reform im Islam sein wird.
Die hässlichen Realitäten einer vormodernen Welt
Gemäß einer traditionalistischen Sichtweise auf islamisches Recht ist es legitim, wenn ein Mädchen im Kindesalter mit einem viel älteren Mann verheiratet wird. Dies ist eine moralische Perversion, wie lässt sich dieser gordische Knoten lösen?
Das ist ein gutes Beispiel. Natürlich würden die meisten Muslime eine "Ehe" zwischen einem 12-jährigen Mädchen und einem 60-jährigen Mann verabscheuungswürdig finden, aber es ist wahr, dass es einige strenge islamische Gelehrte gibt, die dies rechtfertigen. Warum? Weil im traditionellen islamischen Recht die Pubertät als das legitime Heiratsalter angesehen wird. Dabei war dieses Heiratsalter ursprünglich nichts Islamisches, sondern ist einfach der Kultur der damaligen Zeit entsprungen, und zwar weltweit. In ähnlicher Weise hat das traditionelle islamische Recht auch Sklaverei und Konkubinat gerechtfertigt, nicht weil es sich dabei um Erfindungen des Islam handelte. Diese Phänomene waren schlichtweg die hässlichen Realitäten einer vormodernen Welt.
Der Schlüssel zu einem angemessenen Verständnis liegt in der Fähigkeit, "das Religiöse" vom "Historischen" zu unterscheiden. Es geht auch darum, eine universelle Sichtweise einzunehmen, so dass man den ethischen Wert in der Bildung von Mädchen (anstatt sie mit 12 Jahren zu verheiraten), in der umfassenden Emanzipation der Frauen oder in der Abschaffung der Sklaverei erkennen kann. Dies erfordert jedoch ein Neubestimmung der Bedeutung der Scharia im Islam, die ich mit diesem Buch zu leisten versuche.
In Ihrem 2013 erschienen Buch "Islam Without Extremes“ hatten Sie der Türkei noch einen freiheitlicheren, offeneren und demokratischeren Weg bescheinigt. Heute hingegen ähnelt die Türkei in puncto demokratischen Werten eher einem Alptraum. Ist die Religion dafür verantwortlich, dass die Türkei diesen Weg eingeschlagen hat?
Die Türkei ist in der Tat eine große Enttäuschung - die größte Enttäuschung in meinem eigenen Leben. Denn ich gehörte zu denjenigen, die die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) in ihren Anfangsjahren unterstützt haben, als die Türkei einige wichtige Rechtsreformen einführte und auf dem Weg in die Europäische Union zu sein schien. Aber dann, nachdem sie die Macht gefestigt hatte, sah ich, wie dieselbe AKP eine Kehrtwende hin zu Korruption, Autoritarismus, dem Schüren von Hass und schierer Grausamkeit vollzog.
Islam und autoritäre Herrschaft
Wer trägt die Schuld an diesem Desaster? Ich glaube, es gibt keine einfache Antwort darauf. Einen Teil der Schuld trägt die politische Kultur in der Türkei, die berüchtigt streitsüchtig, staatsfixiert und chauvinistisch ist. Kein Wunder also, dass diese Krankheiten auch in säkularen Kreisen der Türkei zu finden sind.
Aber die Entwicklung hat auch etwas mit dem Islam zu tun, auf den sich die neue herrschende Elite hauptsächlich bezieht. Sie benutzen den Islam ohne Frage, um autoritäre Herrschaft, blinden Gehorsam gegenüber einem “Großen Führer” und Hass gegen alle diejenigen zu rechtfertigen, die zu "Feinden des Islam" oder "Verrätern" erklärt werden. (Und das gilt nicht nur für "Erdoğanisten", die die Oberhand haben, sondern auch für "Gülenisten", die im innerislamistischen Machtkampf vom engsten Verbündeten zum ärgsten Feind wurden.)
Also, ja, die Tragödie der Türkei hat etwas mit dem Islam zu tun und mit der Art und Weise, wie er für Machtzwecke instrumentalisiert wird. Das ist ein tiefsitzendes Problem, das ich in meinem Buch ausführlich anspreche.
Sie geben den Deutungen der religiösen Texte, die die Freiheit kultivieren, viel Raum, während andere jene Auslegungen vorziehen, die den Gehorsam untermauern. Methodisch ähneln sich diese Herangehensweisen. Was macht Ihre “islamische Freiheit” gegenüber anderen Deutungen besonders?
In der Tat schauen Muslime mit unterschiedlichsten Werten in denselben Koran und kommen zu verschiedenen Interpretationen dieser Texte. Als Muslim, der die Freiheit schätzt, inspirieren mich Koranaussagen wie "Es gibt keinen Zwang in der Religion" oder "Dir deine Religion, mir meine". Andere Muslime, die eher an die Überlegenheit des Islam und an Zwang in seinem Namen glauben, halten andere Verse für bestimmend, wie z. B.: "Bekämpft diejenigen, die nicht an Allah und den Jüngsten Tag glauben ... bis sie unterworfen sind."
Das Hauptproblem dabei ist, dass jene Interpretationen, die die Überlegenheit des Islam und den Zwang fördern in den ersten Jahrhunderten des Islam zur Mainstream-Meinung wurden. Die toleranten Verse, die ich gerade erwähnt habe, wurden für "aufgehoben" erklärt oder zumindest in ihrem Geltungsbereich eingeschränkt. Ich behaupte, dass nicht der Koran selbst diese Auslegung gefordert hat.
Sie war vielmehr eine Folge der politischen Bedürfnisse der frühen muslimischen Reiche, die in einer brutalen Welt bestehen mussten. Doch wir leben heute in einer radikal anderen Welt, in der Frieden, Freiheit und Menschenrechte universelle Normen sind. Deshalb sind wir Muslime angehalten, den Geist dieser damals "aufgehobenen" Verse wiederzubeleben, die zu einer Haltung des "Leben-und-Leben-Lassens" zwischen Muslimen und anderen aufrufen.
Sie betonen, dass Schicksalsgläubigkeit im Islam autoritären Führern in die Hände spielt. Würden Sie sagen, dass - am Beispiel der Türkei - die AKP mittels der Diyanet-Religionsbehörde, den theologischen Fakultäten, den religiösen Gemeinschaften und Orden einen Islam verbreitet, der Gesellschaft und Politik stets an erster Stelle sieht, anstatt sich an der Förderung von freien und mündigen Individuen zu orientieren?
Im ersten Jahrhundert des Islam entstand eine streng fatalistische Doktrin namens Jabriyya (Zwang), die durch einige angeblich echte Hadithe gestützt wurde und die den freien Willen des Menschen leugnete. Später milderte die sunnitische Hauptlehre, der Asch'arismus, diesen extremen Fatalismus bis zu einem gewissen Grad ab, aber er ist immer noch ein vorherrschendes Thema in der muslimischen Kultur.
Fatalismus wird immer wieder von autoritären Herrschern herangezogen, um sich vor ihrer Verantwortung zu drücken, wenn sie entweder nicht fähig sind zu regieren oder falsche Entscheidungen treffen. Dieser Fatalismus spielt auch die individuelle Verantwortung herunter, und das ist einer der Gründe, warum ich den Fatalismus und seine negativen Auswirkungen auf muslimische Gesellschaften diskutiere.
Aufklärung hatte unterschiedliche Nuancen
Im Westen wird oft darüber diskutiert, dass die islamische Welt dringend eine Aufklärung benötige. Haben die Muslime tatsächlich ein Problem mit fehlender Aufklärung?
Ja, aber der Islam braucht seine eigene Aufklärung. Mein Buch ist in der Tat ein Argument dafür. Aber lassen Sie mich hinzufügen, dass die europäische Aufklärung auch ihre Nuancen hatte. Es gab eine radikal säkularisierte Aufklärung, die vor allem in Frankreich einflussreich war und die Religion im Namen von Vernunft und Freiheit oft in Frage gestellt und sogar unterdrückt hat. Es gab aber auch das, was der Historiker David Sorkin die "religiöse Aufklärung" nennt, die auf eine Versöhnung von Religion mit Vernunft und Freiheit abzielte. Diese letztere Art der Aufklärung ist es, für die ich in der muslimischen Welt eintrete.
Folgende drei Gruppen hindern Muslime Ihrer Meinung nach daran, in Einklang mit der Moderne zu leben: Salafisten, Islamisten und Konservative! Die in Deutschland organisierten muslimischen Verbände weisen genau die Eigenschaften einer stockkonservativen Gruppierung auf. Auch wenn die Anzahl der liberalen Muslime gering ist, stören sich die Konservativen massiv an ihnen und bezichtigen sie, verwestlicht, modernistisch und orientalistisch zu sein. Worin denken Sie liegt hier das eigentliche Problem?
Da die meisten dieser streng konservativen Muslime aus Gesellschaften mit muslimischer Mehrheit in den Westen gekommen sind, sind sie dann nicht selbst “Westler”? Denn etwas müssen sie ja am Westen schätzen, wenn sie dort leben. Und dieses Etwas liegt für mich auf der Hand: Seit dem Zweiten Weltkrieg sind die westlichen liberalen Demokratien die sichersten, freiesten und gerechtesten Gesellschaften der Welt, zumindest im Vergleich mit der muslimischen Welt. Kein Wunder also, dass selbst Islamisten, die in ihren eigenen Ländern verfolgt werden, oft in den Westen fliehen, wo sie Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit vorfinden.
Ich würde mir wünschen, dass dieselben Werte - Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit sowie wirtschaftlicher Wohlstand, der eng mit Freiheit und Gerechtigkeit verbunden ist - auch in der muslimischen Welt gelten. Macht mich das zu einem "Westler"? Nicht wirklich, denn ich will diese Werte nicht wegen des Westens, sondern um das Wohl des Ostens willen. Ich wünsche mir, dass Muslime auf der ganzen Welt das gleiche Maß an politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Rechten genießen wie ein deutscher oder kanadischer Bürger. Dies als illegitim "verwestlich" darzustellen, entspringt entweder der eigennützigen Propaganda östlicher Despoten oder es ist eine selbstschädigende reaktionäre Vorstellung.
Ich möchte hinzufügen, dass die Kluft zwischen Westen und Osten nicht in Stein gemeißelt ist. Bis vor einigen Jahrhunderten noch waren die Vorzeichen genau entgegengesetzt: Die islamische Welt war aufgeklärter, wohlhabender und freier. Deshalb flohen die spanischen Juden aus dem Reich der Christenheit und fanden Zuflucht im Osmanischen Reich, das ihnen unvergleichlich mehr Religionsfreiheit bot. Aber heute fliehen die Flüchtlinge aus der muslimischen Welt. Und wir sollten uns ehrlich fragen, warum das so ist.
Nationalismus, Tribalismus – und schiere Machtgier
Traditionalistische islamische Rechtsgelehrte sehen die Ursache für die fehlende Gleichberechtigung und Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern in der islamischen Welt darin, dass islamisches Recht nicht konsequent umgesetzt würde. Stimmt das so?
Es gibt nicht eine einzige Ursache für alle Probleme in der muslimischen Welt, die aus mehr als 50 verschiedenen Nationalstaaten mit ganz unterschiedlichen Problemen besteht. In Syrien herrscht eine brutale Diktatur, aber nicht wegen des Islam, und das Gleiche gilt beispielsweise für Turkmenistan. Die Türkei, mein Heimatland, hat Minderheiten wie die Kurden jahrzehntelang auch aus einem säkularen Nationalismus heraus und nicht wegen des Islam unterdrückt.
Doch es gibt auch Diktaturen oder militante Gruppen, die im Namen des Islam handeln. Es gibt frauenfeindliche Auslegungen des islamischen Rechts, die Frauen den Männern unterordnen wollen. Es existieren unorthodoxe Ideen, die mit grausamen Urteilen die Apostasie (den Abfall vom Glauben) oder Blasphemie kriminalisieren. Meine Arbeit konzentriert sich auf die Kritik an diesen problematischen Auslegungen des islamischen Rechts. Aber ich möchte daran erinnern, dass in der muslimischen Welt noch viele andere negative Kräfte am Werk sind, wie Nationalismus, Tribalismus sowie das universelle menschliche Problem der Machtgier.
Wie die allgegenwärtige asch’aritische Vorstellung von einem fatalistischen Schicksal die Menschen zur Unachtsamkeit führt, konnten wir in der Corona- Pandemie sehen. Ist es möglich, sich von diesen Fesseln zu befreien und wenn ja, wie?
Im Großen und Ganzen erging es der muslimischen Welt in der Pandemie gar nicht so schlecht: In vielen Ländern wurden Moscheen geschlossen und religiöse Führer riefen zu Vorsichtsmaßnahmen auf. Aber es gab auch Bereiche, in denen Irrationalität herrschte, am deutlichsten in Pakistan, wo einige Geistliche nicht nur gegen Abstandsregeln waren, sondern sogar leugneten, dass es überhaupt eine ansteckende Krankheit gibt. Wie ich in meinem Buch dargelegt habe, stützt sich diese Ansicht auf einen Hadith, der lautet: "La Adwa" oder "Es gibt keine Ansteckung".
Er wurde von den asch'aritischen Gelehrten jahrhundertelang herangezogen, um die Vorstellung einer ansteckenden Krankheit abzulehnen. Gleichzeitig vertraten die Asch'ariten die theologische Doktrin, dass es in der Natur nicht Ursache und Wirkung gibt, sondern dass Gott jedes Ereignis vielmehr einzeln erschafft. Dies ist nur ein Beispiel dafür, dass einige theologische Lehren die Muslime daran gehindert haben, eine wissenschaftliche Sicht auf die Welt zu entwickeln. Es ist natürlich möglich, solche Lehren zu überwinden, aber zunächst müssen wir erst mal zugeben, dass sie problematisch sind. Das Wissen der Moderne für Muslime
Sie sind gegen eine “Islamisierung des modernen Wissens”, wie sie eine zeitlang von Islamgelehrten propagiert wurde. Welchen Stellenwert sollte also Wissen in der Welt von Muslimen haben, die sich mit der Moderne versöhnen wollen?
Das, was islamische Intellektuelle in der modernen Welt brauchen, ist nicht das einst populäre Projekt einer "Islamisierung des Wissens", sondern die "Integration des Wissens". Letzteres impliziert, dass es einen islamischen Rahmen gibt, der für Muslime gilt, aber auch einen breiteren allgemeinen Rahmen, der für die gesamte Menschheit, einschließlich der Muslime, gilt. Anstatt also zu denken, dass Muslime eine "islamische Wirtschaft" oder einen "islamischen Staat" haben müssen, sollten sie sich mit der gesamten wirtschaftlichen oder politischen Weisheit der Menschheit auseinandersetzen. Genauso wie es keine "islamische" Chemie oder Physik gibt und die Muslime sie nicht "islamisieren" müssen.
Wie lässt sich das kollektive muslimische Bewusstsein von Verschwörungstheorien befreien, die die Feindschaft gegen Westen und Juden befeuern?
In der Tat sind Verschwörungstheorien in der modernen muslimischen Welt für Islamisten, aber auch für Nationalisten verführerisch, weil sie eine einfache Lösung für ein tiefsitzendes Problem bieten. Sie erklären die Unterentwicklung der muslimischen Welt heute nicht durch einen kritischen Blick nach innen, der für eine Lösung der Probleme notwendig wäre, sondern indem sie Feinde innen und außen für die Situation verantwortlich machen, was eine gefährliche Illusion darstellt.
Wir dürfen nur nicht vergessen, dass Verschwörungstheorien in jeder Gesellschaft, die sich unter Druck fühlt, gefährlich populär und zerstörerisch werden können. Sie waren die treibende Kraft hinter dem europäischen Faschismus in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und ihre jüngste Popularität in den Vereinigten Staaten ist ziemlich beunruhigend. Muslimische Gesellschaften sind also nicht die einzigen, die einer wahnhaften Weltanschauung verfallen, die Hass und Wut gegen eingebildete Feinde erzeugt, aber keine Lösung oder Abhilfe für reale Probleme bietet.
Wie können Muslime vor solcher Täuschung bewahrt werden? Vielleicht durch die Erkenntnis, dass es sich um eine "bid'a" (Neuerung) in der islamischen Zivilisation handelt - etwas, das die Konservativen normalerweise verabscheuen. Denn vormoderne Muslime hatten wirklich keine verschwörerische Weltanschauung, wie man in der politischen Kultur der Osmanen deutlich sehen kann. Wenn überhaupt, waren die Osmanen ziemlich zuversichtlich angesichts ihres Platzes in der Welt, und sie kannten keine "zonistische Verschwörung", von der die heutigen so genannten Neo-Osmanen besessen sind.
Die Zwillinge Staat und Religion
Während in der islamischen Welt Staat und Religion als Zwilinge betrachtet werden, sehen Sie genau in diesem autoritären Denken einen gewichtigen Faktor für ihre Rückständigkeit. Religion könne nicht das Ziel haben, einen Staat zu gründen, sagen Sie und berufen sich auf den tunesischen Philosophen Ibn Khaldun (1332-1406). Der Staat solle sich zurückhalten, schreiben Sie. Können Sie bitte erläutern, was sie darunter verstehen?
Es stimmt, dass der Islam von Anfang an mit dem Staat verbunden war - vom ersten muslimischen Staat in Medina, den der Prophet Muhammad in der zweiten Phase seiner Mission gegründet hat, bis hin zum Kalifat, das über Jahrhunderte herrschte. Aber ich stimme mit Gelehrten des 20. Jahrhunderts wie Ali Abdel Raziq, Seyyid Bey oder Mahmud Taha überein, dass diese Verbindung mit dem Staat "historisch" war. Mit anderen Worten: Der Prophet Muhammad gründete in Medina nur deshalb einen Staat, weil er in seiner Heimat Mekka den Islam nicht predigen durfte.
Nach ihm errichteten die Muslime nur deshalb ein imperiales "Kalifat", weil dies das Zeitalter der religiösen Reiche war und die universelle Botschaft des Islam sich nicht durch einen zivilen "Ruf" - oder Da'wa - verbreiten konnte, wie das heute möglich ist. Es ist überfällig, diese historische Verbindung zwischen Islam und Staat zu durchbrechen, denn sie hilft nur autoritären Regimen, die den Islam für politische Zwecke verwenden.
Ibn Khalduns Auffassung von einer begrenzten Regierung ist vor allem ökonomisch - wie etwa niedrige Besteuerung -, aber wir finden Argumente für einen "Islam ohne Staat" auch bei einigen anderen mittelalterlichen muslimischen Gelehrten, wie den Mu'tazila-Theologen Abū Bakr a al-Asamm (gest. ca. 816), Abū Ishāq al-Nazzam (gest. ca. 840) und Hisham al-Fuwat (gest. ca. 845).
Streit um den Koran: Erschaffen oder unerschaffen?
Es gibt einen bis heute andauernden Streit zwischen denen, die den Koran für unerschaffen und ewig halten und für die er keines Kommentars bedarfs. Auf der anderen Seite stehen diejenigen Gelehrten, die vertreten, der Koran sei in der Geschichte geoffenbart worden und erfordere deshalb auch Auslegungen. Sie sehen den Koran als einen kontextgebundenen und interaktiven Text, der Antworten auf Probleme der Menschen gibt. Was erhoffen Sie sich von dieser Sichtweise und welche Probleme heutiger Muslime kann sie lösen?
Nahezu jede muslimische Denkschule akzeptiert, dass der Koran einen gewissen Interpretationsspielraum hat, aber der Umfang dieser Interpretation ist sehr unterschiedlich. Ich kritisiere die vorherrschende sunnitische Lehre, dass der Koran "unerschaffen" ist - dass er seit Ewigkeit bei Gott existierte -, weil sie dazu führt, dass die Offenbarung als ein Monolog Gottes und nicht als ein Dialog zwischen Gott und den Menschen verstanden wird.
Wenn wir verstehen, dass der Koran einen solchen Dialog führt, können wir auch verstehen, warum er zum Beispiel Diebstahl mit der Amputation der Hände bestraft.
Das ist genau die Art und Weise, wie auch die vorislamischen Araber Diebstahl bestraften, in einem sozialen Umfeld, in dem es keine Gefängnisse gab und nur körperliche Strafen möglich waren.
Oder der Koran erlaubte die Polygamie, weil sie in einem gewalttätigen Umfeld, in dem ständige Kriege zu einem Mangel an Männern führte, eine notwendige Einrichtung war. In ähnlicher Weise sprach der Koran viele Bräuche der arabischen Gesellschaft des frühen 7. Jahrhunderts an, die in der modernen Welt unbekannt sind.
Natürlich können wir aus diesen historischen Episoden moralische Lektionen ableiten, aber wir sollten nicht versuchen, sie auf heute zu übertragen. Den Koran in seinem historischen Kontext zu sehen, ist meines Erachtens der Schlüssel zu einer reiferen Auslegung des Korans.
Liberal, tolerant – und muslimisch
Sie vertreten eine Theologie der Toleranz, die sich an der Würde des Menschen orientiert und Lösungen für viele Probleme der Muslime anbieten will. Hierfür plädieren Sie für eine offene Haltung, die sich an den Denkrichtungen der Murdschia, der Mutazila und islamischer Philosophie orientiert. Welchen positiven Beitrag kann eine solche Theologie für einen im Westen lebenden Muslim und für die Welt leisten?
Viele Muslime, die im Westen leben, bewundern, was sie im Westen sehen: Demokratie, Meinungsfreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Respekt für alle Menschen unabhängig von Religion und Glauben. Hier muss ich hinzufügen, dass es auch Probleme gibt, wie etwa die intolerante Auslegung des Laizismus in Frankreich.
Dennoch können einige dieser Muslime die moderne liberale Gesellschaft nicht mit dem vereinbaren, was sie in ihren klassischen religiösen Quellen lesen, oder mit den Fatwas, die sie von traditionellen Geistlichen hören.
Mein Buch will diesen Muslimen zeigen, dass sie liberal und tolerant sein können, ohne dabei die Grundlagen ihres Glaubens aufzugeben. Ich behaupte sogar, dass eine liberale Gesellschaftsordnung der Freiheit und der Toleranz die beste Umgebung ist, um ein guter Muslim zu sein. Denn sie erlaubt es einem, Muslim zu sein, wie man wirklich glaubt - und nicht, wie es einem von einem Regime oder einer "Religionspolizei" diktiert wird.
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Mustafa Akyol, Reopening Muslim Minds. A Return to Reason, Freedom, and Tolerance, St. Martin's Essentials 2021
Der türkische Journalist und Autor Mustafa Akyol gehört zu den profiliertesten Denkern eines Islam, der mit den Werten von Demokratie und Aufklärung vereinbar ist. Akyol schreibt regelmäßig unter anderem für die New York Times und das Magazin Al Monitor. Seit 2018 arbeitet er am Center for Global Liberty and Prosperity des Cato Institute in Washington, USA, über die Schnittstellen zwischen Islam und Moderne