Kulturelle Vielfalt jenseits aller Grenzen
Roma sind seit jeher auf Wanderschaft. Ursprünglich stammen sie aus dem Norden Indiens – aus Rajasthan – und zogen auf der Suche nach einem besseren Leben allmählich nach Westen. Über den Nahen Osten und die Türkei gelangten sie so in die Länder Europas, die heute als ihre Heimat gelten: Rumänien, Ungarn, Frankreich, Spanien und Irland.
Auf dieser Route beeinflussten sie nicht nur Musik und Kultur der Länder, durch die sie wanderten. Sie verarbeiteten auch, was sie sahen und hörten. Der Film "Latcho Drom“ (dt. Gute Reise) des französischen Regisseurs, Schauspielers, Autors, Komponisten und Filmproduzenten Tony Gatlif erzählt die Geschichte dieser musikalischen Wanderung.
Aber die Roma-Musiker sind mit ihren Kollegen aus dem Nahen Osten nicht nur über die gemeinsame Geografie verbunden. Oft verwenden sie auch gleiche Instrumente. Abgesehen von international verbreiteten Instrumenten wie beispielsweise Gitarre und Violine spielen sie auf einer Variante der Kastenzither, auch Hackbrett genannt, und der Darbuka, einer einfelligen Bechertrommel. Bei vielen Roma-Bands kommt als Hackbrett das Zymbal zum Einsatz, während in der arabischen Welt das Kanun verbreitet ist.
Die vier Stammmusiker von "Taraf Syriana" – Omar Abour Afach, Violine; Noemy Braun, Cello; Naeem Shawar, Kanun; und Sergiu Popa, Akkordeon – bringen jeweils ihre Talente und ihre persönliche Geschichte in das Projekt ein. Afach, der aus Syrien geflohen ist und jetzt in Montreal, Kanada, lebt, war einst Bratschist und Violinist im Syrischen Nationalorchester. Shawar war in Syrien Musiklehrer für das Kanun, bevor er nach Montreal ging.
Auch die übrigen Musiker, die dem Taraf-Teil der Gruppe angehören ("taraf" ist das Roma-Wort für Band oder Gruppe), haben ähnliche Referenzen. Der in Moldawien geborene Popa gilt als Virtuose auf dem Roma-Akkordeon. Wie seine syrischen Bandkollegen lebt er heute als Musiklehrer in Montreal. Noemy Braun erhielt ihre klassische Ausbildung in Europa und in Kanada.
Als innovativer Kopf hat sie ihr sechssaitiges Cello, die sogenannte Sestarcorda, selbst entwickelt. Das Instrument zeichnet sich durch eine größere Variation an Tönen aus als das klassische Cello, was zum einzigartigen Sound der Band beiträgt.
Seit Jahrhunderten leben Roma im Nahen Osten. Syrien bildet da keine Ausnahme. Vor Ausbruch des Bürgerkriegs lebten schätzungsweise etwa 250.000 Roma in Syrien. Das Stück "Abdul Karims Tango“ des Albums wurde von Mohammad Abdul Karim komponiert, einem der bekanntesten Komponisten und Interpreten Syriens.
Wertschätzung für Roma-Musik
Hört man sich "Abdul Karims Tango“ an, meint man, das Stück sei in Bukarest oder einer anderen Balkanstadt komponiert worden, in der Roma beheimatet sind. Es klingt uns so vertraut wie die Lieder, die wir seit jeher aus diesen Regionen kennen. Dabei stammt es aus der Feder eines syrischen Komponisten. Wurde diese Musik in den Cafés von Damaskus zur gleichen Zeit gespielt, als Karims Zeitgenossen in Rumänien ähnliche Musik in ähnlichen Lokalen spielten?
Dieses Hörerlebnis ändert nicht nur unsere Vorstellung davon, welche Art von Musik in Syrien gespielt und geschätzt wird. Es vertieft auch unsere Wertschätzung für Roma-Musik. Diese Musik hat eine weite Reise hinter sich und ist tief im kulturellen Leben der Länder verankert, die die Roma durchquert oder in denen sie gelebt haben.
Jeder der zehn Titel des Albums steht für diese wunderbare gegenseitige Bereicherung. In der Musik klingt auch der Unterton der Staatenlosigkeit an, der den Roma ebenso wie vielen Flüchtlingen vertraut ist. Warum treffen wir überall auf diese Art von Musik? Weil die Roma stets zur Wanderschaft gezwungen waren.
Ungeachtet dieser eher bedrückenden Erkenntnis ist es eine Freude, die Musik auf diesem Album zu hören. Die Musiker beschränken ihr Repertoire nicht auf Lieder aus Syrien. Sie nehmen uns mit auf eine musikalische Reise durch den Nahen Osten und Europa. Der Eröffnungstitel des Albums, "Me Dukhhap Tuke“, wird vom Roma-Sänger Dan Armeanca auf Rumänisch gesungen. Der zweite Song, "Kevoke“ (Die Taube), ist ein kurdisches Volkslied. Armeanca steuert mit "Sare Roma“ einen weiteren seiner Songs bei, den er diesmal auf Romani singt. Beide Lieder sind beschwingte Stücke, die unsere Füße unwillkürlich wippen lassen. Folgerichtig fordert "Sare Roma“ dazu auf, aufzustehen, zu tanzen und sich seines Lebens zu erfreuen.
Aus der Tiefe des Herzens
Der Song "Qudukka al Mayes“ führt uns tiefer in die arabische Seite der Band. Der Text des irakischen Komponisten Mulla Uthman Al Mawsili handelt davon, wie wir uns von Schönheit verzaubern lassen. Das von Ayham Abou Ammar als Gast aus ganzem Herzen gesungene Stück zieht uns unweigerlich in seinen Bann.
Wie bei anderen Titeln des Albums wirken weitere Musiker am Sound der Band mit: Mohamed Raky übernimmt mit seiner Darbuka die Perkussion und Nazih Borish ergänzt die Streicherpartien mit seiner Oud. Diese zusätzlichen Ebenen verleihen der Musik noch mehr Tiefe und Gefühl. Auch ohne den Text zu verstehen, berühren uns die Worte emotional.
Sogar ohne die Begleitung weiterer Musiker behält Taraf Syriana seine emotionale Kraft. Der abschließende Titel "Dialogue Intimes“ ist ein eingängiges, introspektives Stück. Die Musik folgt in langsamen Windungen ihrem eigenen Weg. So als ob jedes Instrument einen Teil einer Geschichte erzählt und wir auf eine Reise mitgenommen werden. Getragen von Gefühlen, die Menschen auf der Suche nach Zugehörigkeit und einer neuen Heimat empfinden.
"Taraf Syriana" der gleichnamigen Band ist eine bemerkenswerte Aufnahme. Jeder Song verdient unsere Aufmerksamkeit. Ausdrucksstark, emotional und mit großer Brillanz gespielt von einer Gruppe überaus talentierter Musiker. Die Lieder sind nicht nur eingängig. Es gelingt ihnen auch, zwei Kulturen nahtlos miteinander zu verflechten.
In einer zunehmend polarisierten Welt feiert dieses Werk in seiner Kunstfertigkeit und Schönheit ein Zusammenspiel von Menschen, das unbedingt hörenswert ist. Ein Album als Quell reiner Freude.
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www.tarafsyriana.com