"Wir werden die Syrer zurückschicken"

Rund 90 Prozent aller Türkinnen und Türken wollen, dass die syrischen Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren.
Rund 90 Prozent aller Türkinnen und Türken wollen, dass die syrischen Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren.

Nach offiziellen Angaben leben in der Türkei etwa 5,5 Millionen Flüchtlinge, darunter viele Syrer. Vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai machen fast alle Parteien Stimmung gegen sie. Von Elmas Topcu

Von Elmas Topcu

9. April im Istanbuler Stadtteil Bagcilar. Vor einer blau umrahmten Tür stehen ein paar Männer. Einer von ihnen, groß und sehr aufgeregt, ruft laut: "Kann ich nach Syrien gehen und dort einfach jemanden töten?", und antwortet selbst: "Nein". Er ist wütend. Sein Bruder, ein Textilarbeiter, ist bei einer Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppen ums Leben gekommen. Er wurde von einem Syrer erschossen.

Sinan Ogan, Präsidentschaftskandidat vom rechtsnationalistischen Ata-Bündnis ist zu Besuch bei der Familie. "Ich verspreche Ihnen, wir werden die Syrer so schnell wie möglich zurückschicken. Wir werden nicht zulassen, dass noch ein Türke von einem Syrer ermordet wird", sagt er.

Der 55-jährige Politiker Ogan ist einer von vier Präsidentschaftskandidaten, die bei den Wahlen am 14. Mai antreten. Ogan stammt ursprünglich aus der Ülkücü-Bewegung, in Deutschland eher bekannt unter dem Namen Graue Wölfe. Nach einem innerparteilichen Machtkampf war er aus seiner ultranationalistischen Partei MHP rausgeworfen worden. Seine Zustimmungswerte pendeln laut Umfragen derzeit zwischen 1,3 und 2,5 Prozent.

Nicht nur Ogan und sein rechtspopulistisches Bündnis machen Stimmung gegen Flüchtlinge. Fast alle Parteien treten mit dem Versprechen an, nach einem Wahlsieg fast vier Millionen Syrer umgehend in ihre Heimat zurückzuschicken. Nur das prokurdische Grün-Links-Bündnis ist dagegen. 

Kilicdaroglu will Rückkehr mit Assad verhandeln

Vor allem Kemal Kilicdaroglu, Chef der Oppositionspartei CHP und Präsidentschaftskandidat der größten Oppositionsallianz, hat den Unmut in der Bevölkerung früh gespürt und schon vor einigen Jahren die Flüchtlingspolitik zu einem seiner Schwerpunkte gemacht. Er verspricht, nach einem Sieg mit dem syrischen Regime über die Rückkehr der Flüchtlinge zu verhandeln.

Der rechtsextreme Kandidat der Ata-Allianz, Sinan Ogan (Foto: Burhan Ozbilici/AP Photo/picture alliance)
"Wir werden die Syrer so schnell wie möglich zurückschicken“: Sinan Ogan, Präsidentschaftskandidat vom rechtsnationalistischen Ata-Bündnis ist nicht der einzige Politiker, der im Wahlkampf Stimmung gegen Flüchtlinge macht. Fast alle Parteien treten mit dem Versprechen an, nach einem Wahlsieg fast vier Millionen Syrer umgehend in ihre Heimat zurückzuschicken. Nur das prokurdische Grün-Links-Bündnis ist dagegen. 



Auch ins Wahlprogramm hat sein Bündnis diesen Punkt aufgenommen. Außerdem will das Bündnis den Flüchtlingspakt mit der EU überprüfen. Mit Drittländern sollen  eigenes Rückführungsabkommen abgeschlossen werden. Darüber hinaus will das Bündnis die "löchrigen" Grenzübergänge mittels neuer Technologien und Drohnen  überwachen und wenn nötig, Mauern hochziehen, um unkontrollierte Migration zu verhindern. Auch Visa-Erleichterungen mit diversen Staaten sollen auf den Prüfstand.



Die regierende AKP nahm bis vor einem Jahr noch die Syrer in Schutz. Sie sah in ihnen vor allem billige Arbeitskräfte, die für die türkische Wirtschaft unabdingbar seien. Durch die Wirtschaftskrise, Inflation und Armut sinkt in der Gesellschaft jedoch die Akzeptanz für die Syrer, was zum Umdenken in der AKP führte.

"Mit der Erkenntnis, dass die Syrer doch nicht nach ein paar Jahren zurückkehren, kippte die Stimmung", erklärt Migrationsforscher Murat Erdogan von der Universität Ankara. Ihm zufolge nutzten zunächst die Oppositionsparteien die wachsende Missstimmung in der Bevölkerung für sich. Nachdem sie mit dem Flüchtlingsthema in der Wählergunst punkten konnten, griff auch die Regierungspartei AKP dies auf. 



Präsident Recep Tayyip Erdogan kündigte an, eine freiwillige und sichere Rückreise der Syrer vorzubereiten. Die illegale Migration wolle seine Partei, wie bisher, entschieden bekämpfen. "In der letzten Zeit prahlt die AKP mit hohen Abschiebezahlen", erklärt der Migrationsforscher.  

Fast 90 Prozent für die Rückkehr der Syrer

Murat Erdogan führt seit fünf Jahren die Studie "Syrer-Barometer" durch, untersucht die Lebenswelten der Türken und Syrer und nimmt das Zusammenleben im Land unter die Lupe. "Wir stellen jedes Jahr die Frage, wie wichtig das Flüchtlingsthema für die türkische Gesellschaft ist", sagt der Wissenschaftler im Interview mit der Deutschen Welle (DW).



Bisher landete es nach seinen Angaben immer unter die ersten drei oder vier Themen. "In der aktuellen Studie ist es auf Platz zwei geklettert, direkt nach der Wirtschaftskrise", fügt Erdogan hinzu.

Oppositionsführer und Herausforderer Erdogans Kemal Kilicdaroglu (Foto: DHA)
Populistische Forderungen: Oppositionsführer und Präsidentschaftskandidat Kemal Kilicdaroglu von der größten Oppositionspartei CHP hat den Unmut in der Bevölkerung über die syrischen Flüchtlinge früh gespürt und schon vor einigen Jahren die Flüchtlingspolitik zu einem seiner Schwerpunkte gemacht. Er verspricht, nach einem Sieg mit dem syrischen Regime über die Rückkehr der Flüchtlinge zu verhandeln und hat dies auch in das Wahlprogramm seines Bündnisses aufgenommen.



Hat die Flüchtlingspolitik der Parteien Auswirkungen auf das Wahlverhalten der Wähler, wollten er und seine Kollegen wissen. "Bis zu 60 Prozent der Teilnehmenden haben dies bejaht", berichtet der Wissenschaftler. Das Thema biete politischen Parteien viel Raum, um sich zu profilieren, vor allem, wenn das Rennen knapp wird.  

Laut "Syrer-Barometer“ wünschen sich mehr als 88,5 Prozent der Türken eine Rückkehr der syrischen Flüchtlinge in ihr Heimatland. Auch 85 Prozent der AKP-Wähler unterstützen diese Forderung.  

Eine Rückkehr ist unrealistisch

Dabei hält Migrationsforscher Murat Erdogan die Rückkehr von Syrern für höchst unrealistisch. Seinen Angaben nach leben derzeit in der Türkei mehr als 3,5 Millionen Syrer, die einen temporären Schutz haben. Hinzu kämen 100.000 mit einem gültigen Aufenthaltstitel. Etwa 200.000 bis 300.000 seien eingebürgert. Insgesamt also knapp vier Millionen.

Die Zahl der irregulären Flüchtlinge beträgt Erdogan zufolge ca. 400.000. Diese stammen vor allem aus Afghanistan, Pakistan, Irak und aus Afrika. Dazu kommen noch etwa eine Million Flüchtlinge, die auf Abschiebung warten.

Somit kommt der Migrationsforscher aus Ankara auf insgesamt 5,5 Millionen Flüchtlinge, die sich derzeit in der Türkei aufhalten. "Kein anderes Land auf der Welt hat so viele Flüchtlinge aufgenommen wie die Türkei", wiederholt er. Diese große Herausforderung hätte auch Deutschland nicht bewältigen können.



Viele Syrer leben mittlerweile seit mehr als 10 Jahren im Land. Ihre Kinder besuchen Schulen, die Erwachsenen gehen einem Beruf nach, auch wenn sie überwiegend illegal beschäftigt werden. "Sie zurückzuschicken, innerhalb von wenigen Jahren, wie die Parteien behaupten, ist unmöglich", wiederholt Migrationsforscher Erdogan. Fast 900.000 Kinder seien in der Türkei auf die Welt gekommen, für sie sei Syrien keine Heimat mehr.

Flüchtlinge werden Opfer von Gewalttaten

Die galoppierende Inflation, eine hohe Arbeitslosigkeit und Armut machen den Menschen in der Türkei das Leben schwer. Mit der Niedrigzinspolitik von Präsident Recep Tayyip Erdogan stürzte die Wirtschaft in eine tiefe Krise. Die Kaufkraft schwindet rasant, Armut kommt auch in der Mitte der Gesellschaft an.

Ein Laden an einer türkischen Straße und ein Mann auf einem Mofa (Foto: Felat Bozarslan/DW)
Unrealistische Wahlkampfpropaganda: Migrationsforscher Murat Erdogan hält die Rückkehr von Syrern in ihr Heimatland für höchst unrealistisch. Viele Syrer leben mittlerweile seit mehr als 10 Jahren im Land. Ihre Kinder besuchen Schulen, die Erwachsenen gehen einem Beruf nach, auch wenn sie überwiegend illegal beschäftigt werden. "Sie zurückzuschicken, innerhalb von wenigen Jahren, wie die Parteien behaupten, ist unmöglich", sagt der Migrationsforscher. Fast 900.000 Kinder seien in der Türkei auf die Welt gekommen, für sie sei Syrien keine Heimat mehr.



Vor allem die rechtspopulistischen und nationalistischen Parteien würden die Gunst der Stunde nutzen und die angespannte Lage für ihre Zwecke ausbeuten. Sie verbreiten Ausländerhass und schüren Angst vor Überfremdung. "Die Türkei ist von jungen, fremden Männern einverleibt worden", behaupten sie.

Die anfängliche Kritik schlug auch in Gewalt um. Im August 2021 hat ein Mob syrische Geschäfte in Ankara verwüstet, weil die Inhaber angeblich keine Steuern zahlen und von staatlichen Hilfen leben würden. Mitte Januar 2022 erstach eine maskierte Gruppe den 19-jährigen Syrer Nail Alnaif in Istanbul, als er in seiner Wohnung schlief.



Im Juni 2022 haben türkische Sicherheitskräfte auf 35 Flüchtlinge in der Stadt Osmaniye geschossen, weil sie angeblich aus dem Flüchtlingsheim zu fliehen versuchten. Auch kurz nach den großen Erdbeben im Februar wurden viele Flüchtlingen für Plünderer gehalten und wurden zu Opfern von Gewalt.   

Migrationsforschern zufolge wirkt sich diese Stimmung auf die Fluchtbewegung aus. Immer mehr Flüchtlinge wollen die Türkei verlassen, vor allem in Richtung Europa. "In Syrien sehen die Flüchtlinge keine Zukunft, in der Türkei fühlen sie sich unsicher", sagt auch Migrationsforscher Erdogan. Vor vier Jahren wollten laut „Syrer-Barometer“ 25 Prozent der Syrer die Türkei verlassen und in ein Drittland auswandern. In der aktuellen Studie seien es 55 Prozent. Murat Erdogan glaubt: "Wenn wir sie jetzt fragten, würden sicher mehr als 70 Prozent die Türkei verlassen wollen."

Elmas Topcu

© Deutsche Welle 2023