Ist die Vernichtung der Hamas ein realistisches Ziel?
Die israelische Regierung lässt keine Zweifel an ihrem Ziel: Die militant-islamistische, in Deutschland, der EU, den USA und anderen Staaten als Terrororganisation eingestufte Hamas soll komplett "eliminiert" werden. Dazu haben sich viele hochrangige Regierungsmitglieder bekannt, darunter Premierminister Benjamin Netanjahu.
Seit dem Terrorangriff am 7. Oktober, bei dem die Hamas in Israel rund 1200 Menschen ermordet hat, bombardiert Israel den von mehr als zwei Millionen Palästinensern bevölkerten Gazastreifen. Ende Oktober startete die israelische Armee dort zudem eine Bodenoffensive. Das Leiden der Zivilbevölkerung ist enorm in dem extrem dicht besiedelten Landstrich.
Doch: "Was bedeutet ‘totale Zerstörung der Hamas’ und glaubt jemand, dass das möglich ist?", fragte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am Rande der COP28 in Dubai.
Hamas ist auch eine soziale Bewegung
Viele Analysten glauben das nicht. Dies liege vor allem daran, dass die Hamas mehr als nur eine militante Organisation sei. Die Gruppe habe schätzungsweise etwa 20.000 bis 30.000 Kämpfer, sagt Guido Steinberg, Nahostexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Allerdings sei sie im Gazastreifen auch eine soziale Bewegung, die massenhaft Unterstützung genieße. "Das ist auf lange Sicht das Problem", sagte Steinberg der Deutschen Welle (DW).
Israel "würde die Hamas gerne als Institution, als politische, religiöse und kulturelle Struktur - und auch als militärische Struktur - auslöschen", sagte Rashid Khalidi, Professor für moderne arabische Studien an der Columbia University in New York, Ende Oktober in einem Interview mit der spanischen Zeitung El Pais. "Ich glaube nicht, dass sie die ersten beiden Ziele erreichen."
Gleichgültig, ob die israelische Armee sämtliche Anführer oder Kämpfer tötet: Als politische Kraft werde die Hamas bestehen bleiben, so Khalidi: "Das gilt ganz unabhängig davon, ob die Israelis den Gazastreifen besetzen oder verlassen." Deshalb meint auch er: "Es ist unmöglich, die Hamas als politische Institution oder Idee zu zerstören."
Allerdings dürfte Israel durchaus in der Lage sein, die militärischen Fähigkeiten der Hamas zu schwächen, vermutet Khalidi. "Dies allerdings nur in begrenztem Umfang und für einen begrenzten Zeitraum."
Das militärische Potenzial zerschlagen
Israel verfügt über eine der stärksten Armeen der Welt. Auf dem jährlich veröffentlichten Global Firepower Index liegt das Land im Jahr 2023 auf Rang 18 von 145 Plätzen insgesamt. Dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut (SIPRI) zufolge gab Israel im vergangenen Jahr 4,5 Prozent seines Nationaleinkommens für Verteidigung aus. Damit ist der Anteil prozentual deutlich höher als etwa in den USA (3,5 Prozent) oder in Deutschland (1,4 Prozent).
Der militärische Flügel der Hamas hingegen operiert eher nach Art einer Guerillagruppe. Die meisten Waffen der Gruppe sind über Schmuggelwege in den Gazastreifen gelangt.
Rein militärisch verfügt Israel durchaus über die notwendigen Mittel, die Hamas zu schwächen und ihre Führer auszuschalten. Zuletzt erklärte die israelische Regierung, man habe seit Oktober 7000 Hamas-Kämpfer getötet.
Teilerfolg für Israel?
Die Zahl lässt sich unabhängig nicht überprüfen. Trifft die Meldung zu, wäre das immerhin ein Teilerfolg für Israel. So schrieb der Think Tank International Crisis Group kürzlich in einer Analyse: "Einige westliche Stimmen sind der Ansicht, die bisherige israelische Offensive habe in Verbindung mit der verbesserten Grenzsicherung dafür gesorgt, dass die Hamas keinen weiteren Angriff wie den vom 7. Oktober unternehmen wird."
Doch skeptische Stimmen überwiegen bei der Frage, ob eine vollständige "Eliminierung" der Hamas möglich ist: "Wie bereits nach den Konflikten mit Israel in den Jahren 2009, 2012, 2014 und 2021 wird sich die Hamas mit ziemlicher Sicherheit ein weiteres Mal aufrüsten und neuformieren", vermutete der ehemalige Nahost-Gesandte der USA, Dennis Ross, Ende Oktober in einem Gastbeitrag für die New York Times. Solange die Hamas nicht von der Macht entfernt sei, spreche er sich deshalb auch gegen einen Waffenstillstand aus, so Ross.
Guerilla-Truppen sind schwer besiegbar
Ein Blick in die Geschichte lehrt, dass es staatlichen Streitkräften bislang selten gelungen ist, Organisationen komplett zu besiegen, die auf Terror und Guerilla-Taktik setzen. Zu den erfolglosen Beispielen gehören der Einsatz der USA gegen die Taliban in Afghanistan sowie gegen aufständische Gruppen im Irak.
Die Niederlage, die die Regierung von Sri Lanka der separatistischen Rebellengruppe Tamil Tigers im dortigen Bürgerkrieg beibrachte, gilt vielfach zwar als Beispiel für den Sieg einer nationalen Armee gegen eine Guerillagruppe. Allerdings gingen diesem Sieg 26 Jahre Krieg voraus. Dieser forderte 80.000 bis 100.000 Tote und es gab Vorwürfe über Kriegsverbrechen auf beiden Seiten.
In einigen Fällen in der internationalen Politik gelang es zwar, die militärischen Fähigkeiten einer aufständischen Gruppe zu schwächen. Anschließend jedoch formierten sich diese oder ideologisch verwandte Gruppen oftmals in noch radikalerer Form neu. Ein bekanntes Beispiel ist der sogenannte "Islamische Staat", der sich aus den Überresten von Al-Qaida entwickelte.
Auch Israel selbst hat es in der Vergangenheit nicht annähernd geschafft, die Hamas an ihr Ende zu bringen, trotz des Umstands, dass es bereits früher eine Reihe ihrer Führer, darunter zwei Gründer der Gruppe, getötet hat.
Es droht noch mehr Extremismus
"Das israelische Militär mag sehr gute Arbeit leisten", sagt der Terrorismusexperte Justin Crump, Leiter von Sibylline, einem Beratungsunternehmen für globale Aufklärung und Risikoanalyse. "Doch auch wenn die Armee die Führung der Hamas ausschaltet und ihre Abschussanlagen für Raketen zerstört: Die Idee der Gruppe vermag sie nicht auszulöschen."
Zwar würden sich einige Bürger des Gazastreifens gegen die Hamas wenden, sagte Crump der DW. Dafür würden andere aber auch mit ihr sympathisieren. "Diese Menschen werden Zorn über diese Aktionen empfinden." Das werde den Kreislauf der Gewalt weiter anheizen. Nur ein anderer als der derzeit laufende Prozess könne diese Entwicklung stoppen.
Ähnlich sieht man es auch bei der International Crisis Group: "Nach mehr als zwei Monaten intensiver israelischer Operationen ist es offensichtlich, dass die Auslöschung der Hamas, und sei es auch nur als militärische Kraft, schwierig bleiben wird. Der entsprechende Versuch läuft darauf hinaus, dass auch das zerstört wird, was bislang vom Gazastreifen übriggeblieben ist", heißt es in einer am 9. Dezember veröffentlichten Analyse des Think Tanks.
Nach Angaben des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums im Gazastreifen wurden in den ersten zwei Monaten des Krieges mehr als 18.000 Menschen von Israel getötet und annähernd 50.000 verletzt. Schätzungsweise 61 Prozent der Getöteten seien Zivilisten, heißt es in einer Analyse von Yagil Levy, Soziologe an der Open University of Israel. Mehr als die Hälfte aller Gebäude im Gazastreifen wurden zerstört, rund 90 Prozent der Bevölkerung haben ihre Häuser verlassen müssen.
Statt die Hamas zu schwächen, droht eine gegenteilige Entwicklung einzutreten, warnt die International Crisis Group: "Netanjahu behauptet, dass die Zerstörung der Hamas die 'Deradikalisierung' des Gazastreifens ermöglichen wird, doch das Gegenteil ist wahrscheinlich", schreiben die Experten des Think Tanks und geben eine besorgniserregende Prognose: "Die laufende Kampagne und ihre Folgen werden neue, vielleicht noch hartnäckigere Formen der Militanz hervorbringen."
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Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp