Gefährlicher Irrweg
Das parteiübergreifende Entsetzen in Deutschland über die Massaker der Hamas am 7. Oktober war und ist groß. Etwa 1139 Menschen wurden getötet, rund 240 als Geiseln entführt. Die unmenschlichen Gräueltaten haben einen Aufschrei und eine umgehende Solidarisierung mit Israel bewirkt. Solche Empathie ist ein Zeichen von Menschlichkeit und sollte eine normale Reaktion auf erbarmungslose Grausamkeit sein.
In den folgenden Wochen zeigte sich jedoch leider immer klarer, dass die israelische Regierung in ihrer Reaktion auf die Angriffe der Hamas kaum zwischen palästinensischen Zivilisten und der Hamas unterscheidet.
Israelische Regierungsmitglieder, Militärkommandeure und andere wichtige gesellschaftliche Akteure bezeichneten die Menschen im Gazastreifen beispielsweise als "menschliche Tiere“, sprachen von der "Auslöschung Gazas“ oder von einer kollektiven Verantwortung der Palästinenser für die Verbrechen der Hamas.
Solche entmenschlichenden und genozidalen Äußerungen erschrecken Beobachter weltweit. Sie sind verstörend und sollten bei deutschen Politikern Entsetzen hervorrufen.
Zahlen des Schreckens
Dieses Entsetzen müsste bei einem Blick auf die aktuelle Situation in Gaza noch viel größer ausfallen. Über 26.000 Palästinenser wurden infolge der israelischen Kriegsführung seit dem 7. Oktober im Gazastreifen getötet, etwa 70 Prozent von ihnen sind Frauen und Kinder.
Die tatsächlichen Zahlen dürften noch weit höher liegen. 90 Prozent der Menschen in Gaza hungern. Human Rights Watch und zahlreiche andere Menschenrechtsorganisationen werfen Israel den Einsatz von Hunger als Waffe vor. Auch die Versorgung von Patienten ist nur noch begrenzt möglich: Von 36 Hospitälern sind lediglich 14 noch in Betrieb und auch das nur stark eingeschränkt.
Akribisch recherchierte Studien dokumentieren das systematische Beschießen, Belagern und Besetzen von Krankenhäusern durch israelische Streitkräfte. Rund 60 Prozent aller Wohneinheiten in Gaza wurden zerstört oder beschädigt.
154 UN-Mitarbeitende und mindestens 119 Journalisten wurden getötet. Laut Reporter ohne Grenzen und dem Committee to Protect Journalists existieren in einigen Fällen starke Indizien, dass Journalisten und ihre Familienmitglieder bewusst von israelischen Streitkräften getötet wurden. 75 Prozent der gesamten Bevölkerung Gazas wurde inzwischen vertrieben.
Diese Zahlen des Schreckens ließen sich noch lange fortsetzen. Sie sind nüchtern aufgelistet auf den Internetseiten der verschiedenen UN-Organisationen zu finden. Die Indizienlage für schwere israelische Kriegsverbrechen in Gaza ist inzwischen erdrückend. Ob es sich dabei um einen Genozid handelt, wird der Internationale Gerichtshof (IGH) klären müssen.
Dosierte Kritik
Doch während die israelische Kriegsführung immer unmenschlicher wurde, haben führende deutsche Politiker ihre Haltung gegenüber der israelischen Regierung nur in winzigen Dosen verändert.
Sie verharren bis heute in der gedanklichen Starre eines undefinierten Staatsräson-Konzepts, dessen zugrunde liegende Ideologie im 16. Jahrhundert in einem autoritären Kontext von Machiavelli geprägt wurde, und das in der Folgezeit häufig dazu gedient hat, Ethik und geltendes Recht zu umgehen. Den Satz "Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson“ im Hinterkopf schweigen sie zum Wüten der israelischen Streitkräfte in Gaza.
Es dauerte Wochen, bis einige von ihnen vorsichtig Empathie für die Menschen in Gaza zu zeigen begannen. Über zaghaft formulierte und leise Äußerungen, dass mehr humanitäre Hilfe in den Gazastreifen gelangen müsse und Israels Selbstverteidigungsrecht sich innerhalb des humanitären Völkerrechts zu bewegen habe, kamen sie aber selbst dann nicht hinaus.
Gleichzeitig verzehnfachte die Bundesregierung bis Anfang November 2023 den Umfang der Genehmigungen für Rüstungsexporte an Israel. Aktuell ist sogar eine Lieferung von Panzermunition geplant. Forderungen nach einer schnellen und andauernden Waffenruhe und Druck auf Israel lehnt man bis heute ab.
Die Existenz israelischer Kriegsverbrechen wies man trotz der vernichtenden Indizienlage regelmäßig zurück. Erst seit der ersten Anhörung zur Völkermordklage gegen Israel beim IGH sind bei einigen Spitzenpolitikern in Nuancen rhetorische Verschiebungen zu bemerken.
Arabische Kritik an der Doppelmoral
Für die arabische Welt war Deutschland ein Vorbild. Das hat sich geändert, seit die israelische Armee im Krieg gegen die Hamas Tausende Zivilisten getötet hat – und von deutschen Politikern kaum Protest zu hören ist.
Die IGH-Entscheidung ist eine Ohrfeige für Deutschland
Den Völkermordvorwurf lehnt die Bundesregierung jedoch strikt ab. Er entbehre jeder Grundlage. Letzteres ist schlicht falsch, wie die seit Monaten von Warnungen begleiteten lebhaften Diskussionen darüber in Expertenkreisen belegen.
Die höchstrichterliche Widerlegung lieferte nun der IGH in seiner jüngsten Entscheidung. Das UN-Gericht sieht die Gefahr, dass Israel die Völkermordkonvention verletzen könnte.
Für wie gefährlich die Richter die Situation halten, unterstreicht ihre Anordnung von Sofortmaßnahmen. Das ist eine Ohrfeige für die Bundesregierung und ihr Verständnis von internationalem Recht.
Zudem schwächt die Bundesregierung mit solchen Vorwegnahmen eines Urteils das höchste Gericht der Vereinten Nationen, und damit das Völkerrecht, als dessen Verteidiger sie sich gerade nach dem russischen Angriff auf die Ukraine so gerne präsentiert.
Das humanitäre Völkerrecht gilt absolut
Die ethisch-moralische Schuld, die nicht mehr überzeugend zu leugnenden Kriegsverbrechen Israels gegen die Menschen in Gaza so lange ignoriert und gedeckt zu haben, müssen diese Politiker mit ihrem Gewissen ausmachen.
Ethik und Moral allein hätten bereits vor Monaten geboten, dieser israelischen Regierung in wachsender Deutlichkeit und Lautstärke auch öffentlich zu kommunizieren, dass die Kriegsverbrechen der Hamas kein Rechtfertigungsgrund für Kriegsverbrechen durch Israel sein können.
Das ist schlicht geltendes Völkerrecht. Sie hätten geboten, sich frühzeitig mit ganzer Kraft auf allen diplomatischen Kanälen und mit wachsendem politischem Druck für eine schnelle und andauernde Waffenruhe einzusetzen. Doch wenn Ethik und Moral als Argument nicht ausreichen, hätten zumindest kühle geostrategische Betrachtungen die Bundesregierung aus ihrer dogmatisch-ideologischen Starre rütteln müssen.
Denn ihre monatelange Verteidigung der israelischen Kriegsführung trotz der erdrückenden Indizienlage für Kriegsverbrechen ist international, insbesondere in den Ländern des globalen Südens, genau beobachtet worden.
Unentwegt hatte die deutsche Regierung die Länder seit dem russischen Angriff auf die Ukraine dazu aufgefordert, Russlands Völkerrechtsverbrechen in internationalen Foren und den Institutionen der Vereinten Nationen zu verurteilen und Sanktionen gegen Russland mitzutragen.
Ansonsten werde man bald in einer Welt leben, in der das Recht des Stärkeren gelte und nicht mehr das Völkerrecht. Es gehe um nicht weniger als die Verteidigung der regelbasierten internationalen Ordnung. Hatte es geheißen.
Heute blicken eben diese Länder auf die nicht mehr glaubhaft vom Tisch zu wischenden schweren Verletzungen des humanitären Völkerrechts durch Israel und auf dieselbe deutsche Regierung, wie sie das israelische Wüten in Gaza verteidigt oder verharmlost. Das Ausmaß des so verursachten Glaubwürdigkeitsverlusts Deutschlands ist gewaltig.
Messen mit zweierlei Maß
Das lange Schweigen und die auch heute noch viel zu leise Kritik der Bundesregierung an der israelischen Kriegsführung in Gaza gefährdet so direkt die Sicherheit der Europäischen Union und Deutschlands.
Denn zukünftig wird es schwerer werden, Verbündete gegen Russland zu gewinnen oder zumindest zu halten, um gemeinsam für eine auf dem Völkerrecht basierende internationale Ordnung zu kämpfen.
Der Vorwurf, Deutschlands politische Führung setze sich für das internationale Recht nur dann ein, wenn es gerade in ihrem Interesse liegt, ist berechtigt. Dieses Messen mit zweierlei Maß wird uns noch lange vorgehalten werden. Und sollte Russland irgendwann erneut auf territorialen Beutezug gehen, oder auch China, werden uns viele auslachen, wenn wir mit dem Völkerrecht argumentierend um Unterstützung bitten.
Der Schaden ist jedoch noch weit größer. Denn die Bevölkerungen der Länder im Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika hegen große Sympathien für die in Gaza und im von Israel völkerrechtswidrig besetzten Westjordanland leidenden Menschen.
Nicht selten nutzen die in diesen Ländern herrschenden Autokraten diese Ungerechtigkeiten gegen die Palästinenser auch zur Mobilisierung der eigenen Bevölkerungen.
Wut auf ein westliches Land zu schüren, das solche Ungerechtigkeiten unterstützt, ignoriert oder mit zweierlei Maß misst, eignet sich dabei hervorragend, um von der Unterdrückung, wirtschaftlichen Ausbeutung oder dem politischen Versagen im eigenen Land abzulenken und um Unzufriedenheit auf einen externen Feind zu kanalisieren.
Russland und China profitieren
Diese Dynamik ist gut sichtbar beispielsweise im Iran oder bei den Houthis im Jemen. Kaum etwas wäre also wirksamer gegen die Angriffe der Houthis auf Containerschiffe als eine schnelle andauernde Waffenruhe in Gaza und eine gerechte, langfristige Lösung für die Palästinenser.
Deren Effekte würden für die Region insgesamt stabilisierend wirken. Die EU und ihre Partner könnten dann ihre begrenzten diplomatischen, finanziellen und militärischen Ressourcen wieder mehr auf die Bereiche konzentrieren, in denen ihre Sicherheit akut bedroht wird.
Eine weitere Eskalation in der Region infolge der israelischen Kriegsführung in Gaza hingegen erhöht den Bedarf dieser Ressourcen, die dringend in dem auf vielen Ebenen ausgetragenen Konflikt mit Russland benötigt werden würden, noch weiter. Die Bombardierungen der USA und Großbritanniens auf Houthi-Positionen im Jemen und die Angriffe Irans in Irak, Syrien und Pakistan sollten deshalb bei der deutschen Politik die Alarmglocken läuten lassen.
Für Russland und andere autokratische Akteure ist die unkritische Haltung der Bundesregierung auch mit Blick auf ihre Destabilisierungsaktivitäten in Deutschland ein Glücksfall. Entscheidend für sie ist das Anheizen von Spaltungen und Konflikten in unserer Gesellschaft, um das Vertrauen in unsere Demokratie zu schwächen.
Das repressive Vorgehen gegen friedliche pro-palästinensische Demonstrationen beispielsweise, das in vielen Fällen inzwischen von deutschen Gerichten als nicht rechtens gewertet wurde, spielt diesen Destabilisierungsversuchen direkt in die Hände.
Denn dadurch entsteht (berechtigte!) Aufregung gegen Unterdrückung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit durch den Staatsapparat: eine Steilvorlage für Einflussoperationen feindlicher Nachrichtendienste, die den so erzeugten Ärger durch Aktivitäten in sozialen Medien und andere Kanäle zusätzlich befeuern können. Bis Gerichte das repressive Vorgehen staatlicher Behörden einhegen, vergeht leider meist viel Zeit, in der sich die Wut auf den Staat fortpflanzt und das Erodieren unserer Demokratie voranschreitet.
Eine offene Flanke der westlichen Demokratien
Diese Gefahr ist beim Thema Gaza besonders groß. Denn Kritik an der unmenschlichen Kriegsführung Israels in Gaza ist in der deutschen Bevölkerung weit verbreitet. Laut dem ZDF-Politbarometer sehen 61 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen das militärische Vorgehen Israels im Gazastreifen mit seinen vielen zivilen Opfern als nicht gerechtfertigt an.
Es beruhigt, dass der moralische Kompass der Mehrheit der Menschen in Deutschland anscheinend nicht abhandengekommen ist. Allerdings vertritt derzeit keine Fraktion der im Deutschen Bundestag vertretenen demokratischen Parteien diese Haltung und damit die große Mehrheit unserer Gesellschaft.
Indem sie die Bedenken der Menschen ignoriert, erzeugt die Politik bei vielen Unzufriedenheit und Wut und schwächt so das Vertrauen in unser demokratisches System.
Wir sollten nicht vergessen, dass es im Konflikt mit Russland und der Rivalität mit China auch um das Überleben der liberalen Demokratie geht. Sie steht weltweit unter wachsendem Druck durch autokratische Mächte.
Auch deshalb dürfen wir den Autokraten keine unnötigen offenen Flanken durch Doppelzüngigkeit und Heuchelei bei Völkerrecht und Menschenrechten bieten. Die deutsche Haltung zu Gaza bildet so eine Flanke. Und sie ist kilometerweit offen.
Jetzt ist Schadensbegrenzung angesagt
Schließlich ist es der Kern der vage formulierten und undefinierten Staatsräson der Bundesregierung selbst, dem die derzeitige Israel-Palästina-Politik Deutschlands großen Schaden zufügt: der Sicherheit Israels.
Das Wüten der in großen Teilen ultrarechten israelischen Regierung im Gaza-Streifen ist ein gigantischer Inkubator für Wut und Hass gegen Israel -in Gaza, den besetzten Gebieten, der Region und weltweit.
Die unfassbaren Zerstörungen durch die israelischen Streitkräfte in Gaza, die tausenden getöteten Frauen und Kinder, die grausam Verstümmelten und die unzähligen für den Rest ihres Lebens Traumatisierten müssen jedem Politiker in Deutschland klar machen, dass diese Kriegsführung der Sicherheit Israels nicht nützt, sondern ihr enormen Schaden zufügt. Die derzeitige Interpretation der Staatsräson, deren Kern ja die Sicherheit Israels sein soll, führt diesen Kern ad absurdum.
Die Bundesregierung darf die erdrückende Indizienlage für israelische Kriegsverbrechen nicht weiter ignorieren. Sie muss sie sehr viel lauter und klarer benennen und thematisieren. Ansonsten deckt sie solche Verbrechen und signalisiert der israelischen Regierung, dass sie in Gaza weiter wüten kann wie bisher.
Angesichts der Entscheidung des IGH sind auch deutsche Waffenlieferungen derzeit nicht mehr vertretbar. Vielmehr muss sich die Bundesregierung mit aller Kraft für die Umsetzung der vom IGH an Israel gemachten Auflagen einsetzen.
Schließlich muss sie all ihre Ressourcen für eine schnelle und andauernde Waffenruhe mobilisieren und sich dann für eine auch von der Mehrheit der Palästinenser als gerecht empfundene Lösung dieses Konflikts einsetzen. Die von ihr begangenen geostrategischen Fehler und der angerichtete außen- und sicherheitspolitische Schaden können auf absehbare Zeit nicht rückgängig gemacht werden. Jetzt geht es vor allem um Schadensbegrenzung.
Matthias Sailer
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Dr. Matthias Sailer ist Politikwissenschaftler und war bis Ende 2022 Vorstandsreferent des Bundesvorstands von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für den Bereich Europa & Internationales. Von 2014 bis 2017 war er Mitglied der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Zuvor arbeitete er als freier Journalist in Kairo.