Der Nahost-Konflikt ist zurück auf der Weltbühne

Per-Video hatte sich Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah an seine Unterstützer gewandt.
Per Video hat sich Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah an seine Unterstützer gewandt und den Angriff der Hamas auf Israel als "rein palästinensisch" bezeichnet. (Foto: Mohamed Azakir/REUTERS)

In letzter Zeit hat sich der israelisch-palästinensische Konflikt von den Konfliktlinien im Nahen Osten entkoppelt. Diese "Verkapselung des Nahostkonflikts“ ist erst einmal vom Tisch, ändert aber nichts an den Parametern eines größeren regionalen Hegemoniekonflikts.

Kommentar von Thomas Demmelhuber

Jahrzehntelang hat sich arabische Politik über das Eintreten für das palästinensische Volk inszeniert und dabei die Gesellschaften mit panarabischen Stimuli affektiv mobilisiert. Die Bemühungen um eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel im Rahmen der Abraham Accords aber auch die regionalen Verschiebungen seit Beginn der arabischen Umbrüche 2010 haben dieses Phänomen weiter an Bedeutung verlieren lassen. 

Dieses faktische Desinteresse hat mit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel erst einmal ein Ende gefunden. Pro-palästinensische Demonstrationen in zahlreichen Hauptstädten der Nachbarstaaten und weit darüber hinaus sind ein klares Indiz hierfür. Bedeutet das auch eine Verschiebung der regionalen Ordnung? Sind damit die Bemühungen um Normalisierung zwischen Israel und weiteren arabischen Staaten vom Tisch? Nein, so die Kernaussage dieses Kommentars, weil sich an der Grundstruktur der regionalen Ordnung nichts verändert hat.

Die von einer erratischen US-Außenpolitik vorangetriebenen Abraham Accords haben einen Fußabdruck in der Region hinterlassen, der den aktuellen Gaza-Krieg beeinflusst und durch die Marginalisierung der Palästinenser in den Verhandlungsrunden auch begünstigt hat. Die Normalisierungsbemühungen waren indes in einigen Ländern nicht nur ein "diplomatisches window dressing“. 

Demonstranten in Teheran verbrennen eine israelische Flagge
Zum Jahrestag der Islamischen Revolution verbrennen Demonstranten in Teheran im Februar eine israelische Flagge. Iran braucht Israel als "flexibel einsetzbares Feindbild zum Zweck der eigenen Herrschaftssicherung". (Foto: Sobhan Farajvan/Pacific Press/picture alliance)

Verlockungen eines Deals

Sie führten zu nachhaltigen Verdichtungen der Beziehungen Israels mit arabischen Staaten. Insbesondere die bilateralen Beziehungen zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) haben auf zahlreichen Feldern einen signifikanten Schub erfahren und die Beziehungen in Handels-, Finanz- und Technologiefragen massiv verdichtet. Bei anderen Abkommen, zum Beispiel zwischen Marokko und Israel, sticht vor allem ein Aspekt hervor.

Marokko erreichte von den USA eine Anerkennung marokkanischer Souveränität über die Westsahara und die Zusage, dass eine Konfliktlösung nur über den Weg marokkanischer Autonomieprojekte erfolgen soll. Frühzeitig war klar, dass über Erfolg oder Misserfolg der Normalisierungspolitik entscheidet, ob Saudi-Arabien bereit sein wird, seine Beziehungen zu Israel ebenso zu normalisieren.

Zahlreiche vertrauensbildende Maßnahmen in den Jahren zuvor, unter anderem die Öffnung des saudischen Luftraums für Flugverbindungen von und nach Israel oder Kooperationen der Geheimdienste, schienen hier einen Pfad vorzuzeichnen. Hinzu kommt, dass bei den jüngsten Verhandlungsrunden für die saudische Führung auch ein strategischer Deal in Griffweite zu liegen schien. 
 

Saudi-Arabien: Annäherung an Israel unpopulär

Das Königshaus pochte auf Zugeständnisse, um im Rahmen saudisch-israelischer Normalisierung einen Zugriff auf Nukleartechnologie für die zivile Nutzung der Atomkraft zu bekommen. Gleichzeitig sind die Normalisierungsbestrebungen in der saudischen Gesellschaft sehr unpopulär. Diese Unpopularität wird im Licht des aktuellen Kriegs nicht geringer werden, was durch die Linse einer autokratischen Herrschaftslogik betrachtet aber nur von nachgeordneter Bedeutung ist. 

Verlautbarungen aus saudischen Regierungskreisen deuten auf Bemühungen hin, den Konflikt zwischen Israel und der Hamas nicht entgleiten zu lassen. Man wolle nicht, dass der Krieg alles zunichte macht, also seien große Anstrengungen nötig, auf dem Erreichten aufzubauen, so zahlreiche Äußerungen auf der Social Media Plattform X anlässlich der Future Investment Initiative (FII) im saudischen Riad Ende Oktober 2023. 

Der ebenfalls anwesende Jared Kushner, Schwiegersohn von Ex-Präsident Trump und einer der Mitinitiatoren der Abraham Accords, sprach auf X von einem entscheidenden Lösungsansatz für eine stabile regionale Ordnung und einem Schlüssel zur Beendigung der aktuellen Gewaltspirale – eine hochumstrittene Einschätzung, folgt man der lebhaften Diskussion seiner Aussagen auf X mit zahlreichen Einschätzungen von ausgewiesenen Stakeholdern aus der Region. 

Machtvisionen und innenpolitische Stressfaktoren

Der Nahostkonflikt ist wieder zu einem Epizentrum der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung in der Region geworden. Er ist aber ebenso ein Abbild einer regional weiter ausgreifenden Konfliktlinie im Wettbewerb um die regionale Führungsrolle, die seit 2003 (Intervention der USA im Irak) und vor allem seit den arabischen Umbrüchen ab 2010 an Dynamik gewonnen hat.

Länder wie Saudi-Arabien, die Türkei, Iran aber auch kleinere Staaten wie die VAE streben nach regionaler Führungsmacht, gar nach einer hegemonialen Rolle, haben aber nicht die materiellen und immateriellen Kapazitäten, um diesen Anspruch durchzusetzen. Es ist genau diese Perspektive, die bei der Einordnung des aktuellen Kriegs in Gaza zu wenig Aufmerksamkeit bekommt.

Der Angriff auf Israel – im Wissen der selbsternannten "Achse des Widerstands“ um Iran, die Hisbollah und weitere militante Gruppen – war der Versuch, den Konflikt wieder in der Tagespolitik nach oben zu hieven, um eine weitere Annäherung der arabischen Golfstaaten an Israel zu torpedieren. Die Sorge vor einer Ausweitung des Konflikts bleibt weiter ein reales und hochbrisantes Szenario, dennoch bleibt sie aus Sicht der beteiligten Akteure ein kaum erstrebenswertes Ziel. 

Erstens bietet ein innerhalb von kontrollierbaren Korridoren schwelender Konflikt mehr Optionen zur innenpolitischen Nutzbarmachung. Das iranische Regime liefert ein Lehrstück über das Zweiebenen-Spiel von Außenpolitik, die nicht nur außenpolitischen Interessen nutzen soll, sondern auch eine innenpolitische Funktion zu erfüllen hat. Hier dient der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern stets als Mobilisierungsinstrument für die eigene innenpolitische Legitimation.  

Ägyptens Präsident Adbel Fattah al-Sisi
Unter Stress: Ägyptens Präsident Adbel Fattah al-Sisi kämpft innenpolitisch mit galoppierender Inflation und Staatsverschuldung. (Foto: Michael Kappeler/AFP/Getty Images)

Iran braucht ein flexibel einsetzbares Feindbild

Diese Mobilisierungskraft hat zwar Grenzen erreicht, zunehmend werden Fragen nach der Sinnhaftigkeit großer Transferzahlungen an die Hisbollah gestellt, eingedenk der katastrophalen wirtschaftlichen Lage in Iran selbst. Eine weitere Eskalation liegt daher nicht im Interesse des iranischen Regimes. Es braucht aber weiterhin ein flexibel einsetzbares Feindbild zum Zweck der eigenen Herrschaftssicherung, da die politische Ordnung im Iran auch ein Jahr nach Beginn der Massenproteste nach dem Tod von Masha Amini durchgeschüttelt wird.

Zu zahlreiche Konfliktherde in der Region binden massive materielle Kapazitäten. Diese Perspektive erklärt, warum Iran jüngst durch chinesische Vermittlung die diplomatischen Beziehungen mit Saudi-Arabien wieder aufnahm. Sowohl für Iran als auch für Saudi-Arabien war die Annäherung eine Chance, gesichtswahrend einen Ausweg aus dem Jemen-Krieg, der jahrelang als Stellvertreterkrieg ausgefochten worden ist, zu finden. 

Zweitens, Saudi-Arabien und die benachbarten Golfmonarchien stehen vor der Herausforderung, ihre politischen Ordnungen ins Post-Ölzeitalter zu führen. Zahlreiche Spielfelder der Diversifizierung werden genutzt, vom Narrativ des klimapolitischen Vorreiters bis hin zum Ausrichter sportlicher Großveranstaltungen. Letzteres braucht ein Mindestmaß an regionaler Stabilität. Städtebauliche Großprojekte wie Neom und The Line am Roten Meer wären von einer weiteren Eskalation des palästinensisch-israelischen Konflikts massiv bedroht.  

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

Ägypten steckt in der Schuldenkrise

Nicht nur die Golfstaaten haben ein Interesse an einer Deeskalation: Auch Ägypten steht aktuell vor innenpolitischen Stressfaktoren. Galoppierende Inflation und eine massive Schuldenkrise verlangen die Aufmerksamkeit des Regimes. Zwar präsentiert sich Ägypten in seiner traditionellen Rolle als Vermittler und Verwalter humanitärer Zugänge über den Grenzübergang Rafah. 

Auch werden pro-palästinensische Demonstrationen in Ägypten geduldet, diese dienen aber für das Regime von Abdel Fattah al-Sisi vor allem als ein Ventil, um nicht selbst zur Zielscheibe von Protesten zu werden. Die vorgezogenen Präsidentschaftswahlen im Dezember 2023, bei der Amtsinhaber al-Sisi für eine weitere Amtszeit kandidiert, zeigen wie angespannt das Regime ist. Diese innenpolitischen Zwänge und Motive verpflichten zu einer aktiveren Außenpolitik im aktuellen Konflikt.

Sowohl der Terrorangriff der Hamas als auch der seitdem andauernde Krieg erklären sich nicht hinreichend über eine Binnenperspektive, die unter anderem auf gescheiterte Perspektiven für eine Zweistaatenlösung, innenpolitische Konflikte in Israel und eine fehlende Qualität der palästinensischen Akteure verweist. 

Es ist die regionale Aushandlung von nach regionaler Führungsmacht strebenden Staaten, die mit ihren Konfliktlinien den Konflikt nachhaltig bestimmen. Eine stärkere Beachtung, wie der regionale Konflikt um Hegemonie den aktuellen Krieg beeinflusst und bisweilen steuert, lässt auch mögliche Lösungsszenarien erkennen. Alle regionalen Akteure eint das Interesse, eine aus den Fugen geratene Eskalation zu vermeiden. 

Die zentralen Broker auf der arabischen Halbinsel wie Saudi-Arabien, die VAE und Katar bringt das aber unmittelbar in die Verantwortung, bei einer diplomatischen Lösung des Konflikts mitzuwirken und nach entsprechenden Wegen zu suchen. Das bringt auch eine stärkere Einbeziehung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) mit sich, die zeitnah eine demokratische Legitimation braucht und dadurch auch nach innen an Akteursqualität gewinnen könnte. 

Auf internationaler Ebene gäbe es weiterhin Blaupausen, um eine zukünftige Territorialität des Gaza-Streifens zu verwalten. Die 2005 nach langwierigen Aushandlungen etablierte Grenzmission EUBAUM würde Optionen eines Grenzregimes zwischen Ägypten und Gaza vorzeichnen. Fest steht, eine Zweistaatenlösung, die Rechte auf Selbstbestimmung und Sicherheit garantiert, bleibt mittelfristig nach wie vor der sinnvollste Weg zu einem dauerhaften Frieden.

Thomas Demmelhuber

© Qantara.de 2023 

Thomas Demmelhuber ist Professor für Politik und Gesellschaft des Nahen Ostens an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg