Auf den Spuren des Meisters in Afghanistan
"Willkommen in der Stadt von Rumi“ hieß es auf einem Schild am Ortseingang von Balch. Es war ein Freitagvormittag im Ramadan 2019 und die Straßen zeigten sich leergefegt bis auf ein paar träge Händler, die gerade ihre Läden aufsperrten. Hier also soll der große Mowlānā, den die Afghanen unter seinem arabischen Ehrentitel "unser Meister“ kennen, vor 816 Jahren geboren worden sein.
Am Hindukusch gilt Mowlānā als Nationaldichter und womöglich berühmtester Sohn des Landes, wobei man sich immer wieder mit dem Iran und der Türkei um sein Erbe zankt. Ihm sind Statuen und Straßen gewidmet; und wenn die jahrzehntelangen Kriege den Afghanen auch so gut wie alles genommen haben, so ist man auf Rumi weiterhin stolz.
Kaum mehr Zugang zu Rumis Dichtung
Jedoch haben heute die meisten Afghaninnen und Afghanen angesichts der hohen Analphabetenquote von etwa sechzig Prozent kaum mehr Zugang zu Rumis Dichtung. Auch die mündlichen Traditionen des Vortragens von Gedichten und des Geschichtenerzählens sind weitgehend verloren gegangen. So ist die Lektüre von Rumis Hauptwerk "Masnawi“, einst eine wichtige spirituelle Praxis in den afghanischen Sufi-Orden, viel weniger verbreitet als im benachbarten Iran, wo Rumi-Werke wie Bestseller über den Ladentisch gehen.
Wenige Kilometer außerhalb von Balch, das eine halbe Autostunde westlich von Masar-e Scharif liegt, steht heute ein altes Lehmhaus, von dem die Afghanen glauben, es sei das Geburtshaus Rumis. Auch wenn das historisch eher abwegig sein mag, ist die im Verfall begriffene Wohnstätte doch eine Sehenswürdigkeit, die so mancher Rumi-Pilger aufsucht, den es hierher verschlägt.
"Neben einer Bauernsiedlung zweigt eine Sandpiste von der Straße ab, vorbei an einem improvisierten Fußballfeld, auf dem fünf Jungen bolzen. Die Jungs bleiben regungslos stehen und blicken dem Auto hinterher, in dem ich sitze. Der Kleinste in der Gruppe knabbert verlegen am Saum seines schmuddeligen T-Shirts, wobei der Bauchnabel zum Vorschein kommt.
Viele Besucher kommen anscheinend nicht zu der Lehmruine, die umgeben von Weizenfeldern, vertrockneten Büschen und krummen Strommasten in der Landschaft steht. Das Haus, von dem die Afghanen sagen, es sei das Geburtshaus von Rumi, erinnert an einen überdimensionierten Bienenkorb. An den Seiten hat es vier gewölbte Öffnungen. Unter dem bröckelnden Putz sind noch Reihen von Lehmziegeln erkennbar, doch die Dachkuppel ist fast gänzlich eingestürzt.
Ich klettere ins Innere. Der rissige Erdboden ist mit Dornengestrüpp überwuchert. Fliegen umschwirren frischen Viehkot. Mein Blick wandert nach oben. Schäfchenwölkchen ziehen über den blauen Himmel. Für einen Moment weite ich meine Fantasie aus und versuche mir vorzustellen, wie der junge Dschalaluddin Mohammad hier als Kleinkind gelebt haben mag.
Mit Dschalaluddin, dem 'Glanz der Religion', wählten seine Eltern einen geradezu prophetischen Namen. Denn eines Tages sollte Rumi seine Religion, den Islam, in aller Schönheit aufglänzen lassen."
Einst eine wichtige Kulturstätte
Balch war einst neben Herat, Samarkand und Neyschabur eine der vier wichtigsten Kulturstädte von Chorasan, jener Region, die eine große Zahl an islamischen Forschern und Mystikern hervorgebracht hat. Chorasans Ruhm ist in der Sufi-Überlieferung fast sprichwörtlich.
Die französische Buddhistin und Entdeckerin Alexandra David-Néel vermutete außerdem, dass sich in Balch einst das sagenumwobene buddhistische Schambhala-Königreich befand. Sicher jedenfalls ist, dass Balch bis zum zerstörerischen Feldzug der Mongolen unter Dschingis Khan ein wichtiges Zentrum der Buddhisten und Zoroastrier gewesen ist.
Bei meinem Besuch präsentierte sich Balch als staubige Ansammlung von Flachdachhäusern. Das Zentrum stellte ein Kreisverkehr dar, an dem sich der Basar der Stadt befindet. Dieser wurde vor allem von bärtigen Männern mit Turbanen frequentiert. Frauen schienen schon vor der Machtergreifung der Taliban fast gänzlich im Stadtbild von Balch zu fehlen.
Mich hatten afghanischen Freunde gewarnt, dass in Balch viele Symapthisanten der Taliban lebten und man hier keine Ausländer möge. Gut zwei Jahre später sollte die Stadt an die Islamisten fallen, schon einige Wochen früher als Kabul und Masar-e Scharif.
"Der Platz vor der Grünen Moschee von Balch ist wie ausgestorben. Stünde das Bauwerk aus dem 15. Jahrhundert woanders, würde es viele Touristen anziehen. Die Spuren des Krieges sind überall sichtbar: Der obere Teil des iwān, dem gewölbten Eingangsportal der Moschee, ist weggebrochen, und von den blau gefliesten koranischen Versen, welche einst die Ränder zierten, sind nur noch einzelne Buchstaben übrig. Auch das Minarett steht nur noch zur Hälfte. Wie ein abgeschlagener Baumstumpf erinnert es an die irreparablen Schäden, die das afghanische Kulturerbe erlitten hat.
Im Schatten des iwān sitzt ein mittelalter Herr mit Gebetskappe auf einer weißen Baumwolldecke, die Hand auf dem stehenden Knie abgelegt. 'Al-mulk l’illah' steht über seinem Kopf in Mosaikschrift geschrieben, 'die Herrschaft ist Gottes'.
Plötzlich erhebt sich der Rastende, faltet seine Decke zusammen, schreitet auf mich zu und beginnt, ohne sich vorzustellen, auf mich einzureden. Wegen des regionalen Akzents kann ich nur wenig verstehen. Das Persisch, welches ich vor sechs Jahren in Teheran gelernt habe, klingt weicher als das afghanische Dari und ist mit französischen Lehnwörtern durchsetzt, auch wenn es abgesehen von kleinen Differenzen im Vokabular dieselbe Sprache ist.
Dennoch gelingt es mir, einige Sätze seines Monologs aufzuschnappen. 'Wir sind Muslime. Doch es gibt keinen Islam hier', schimpft der Mann. 'Schau nur in den Park da drüben, wie die Männer die Mädchen anglotzen. Dabei sollte man doch im Ramadan auch mit den Augen fasten! Außerdem haben die Menschen bei uns nichts zu essen. Ich sage dir, die Leute im Westen sind muslimischer als wir.'
Ich schmunzele in mich hinein und gebe nach außen Laute der Zustimmung von mir. Ich bin mir nicht sicher, ob mich der gesprächige Herr als Westler identifiziert hat oder mich für einen afghanischen Touristen hält. Seine Worte erinnern mich an die Klage des Sufi Abul Hasan Fuschandschi aus dem 10. Jahrhundert: 'Heute ist der Sufismus ein Name ohne eine Realität, doch früher war er einmal eine Realität ohne Namen.'
Von Spiritualität und Feingeistigkeit nichts zu spüren
Mein Eindruck, dass von der Fein- und Freigeistigkeit, die den Islam Rumis ausmachten, in Balch nichts mehr zu spüren ist, bestätigte sich beim Freitagsgebet in der Grünen Moschee. In seiner Predigt erging sich der Imam vor den Betenden in einer lauten Hasstirade, schimpfte auf Amerika und keifte dabei die gelangweilten Gläubigen in seiner Gemeinde regelrecht an. Der Gebetsablauf wirkte mechanisch, die gesamte Atmosphäre in der Moschee spirituell entleert."
Rumi prangert in seiner Dichtung immer wieder Fundamentalismus und Spalterei an. Er warnt davor, die Religion auf ihre äußere Form zu reduzieren — sei es im Beten, im Fasten oder in der Alltagssprache — und dabei den eigentlichen Sinngehalt zu vergessen. So heißt es im Masnawi: Geh über die Form hinaus, flieh vor den Namen! / Flieh vor allen Titeln und Namen, dem Sinn entgegen!
"Als Hunderte die Moschee auf einmal verlassen, bildet sich am Ausgangstor ein Menschenstau. Eine Handvoll Frauen in blauen Burkas kauern dort auf der Erde. Die ersten Frauen, die ich in Balch sehe – das heißt, richtig sehen kann ich sie ja nicht –, strecken ihre Hände aus, um Almosen zu erbetteln. Ein alter Mann verteilt Weißbrot an die Menge. Sogleich fällt eine Schar Kinder über den Greis her und beginnt, sich um die Laibe zu raufen. Die Szene erhöht nach dem seltsamen Gebet noch einmal das Unbehagen in meiner Magengegend.
Innerlich aufgewühlt flüchte ich in den Park neben der Moschee. Die Lebendigkeit der Laubbäume wirkt wie ein Heilmittel gegen die menschengemachte Disharmonie. Hier finde ich wieder Luft zum Atmen, setze mich ins Gras und beobachte das Geschehen. Ein junges Pärchen ruht im Schatten. Ein Junge tritt auf einem viel zu großen Drahtesel in die Pedale.
Auf einmal rutscht ihm das Hinterrad weg. Er fällt um und liegt für einen Moment unter seinem schweren Fahrrad begraben. Ohne auch nur eine Träne zu vergießen, schiebt er das Rad von sich und hält sein schmerzendes Bein. Dann setzt er sich wieder auf den Sattel und dreht die nächste Runde.
In der Mitte des Parks liegt ein Spielplatz, der aus einer Schaukel und einem Klettergerüst besteht. Auf einer rostigen Eisenstange wippen zwei Jungen. Eine Gruppe von Kindern hat sich ihr eigenes Spiel ausgedacht. Drei bunt gekleidete Mädchen und ein kleiner Junge, allesamt barfuß, haben zwei Schals miteinander verschlungen. Jedes der Kinder hält eines der vier Enden der Schals fest.
Dann beginnen sie, sich im Kreis zu drehen. Das improvisierte Karussell dreht sich im- mer schneller, bis nach ein paar Runden der kleine Junge den Halt verliert und rücklings ins Gras purzelt. Die Mädchen drehen sich noch ein paar Mal, doch das Vierergespann ist außer Balance.
Dann geht das Ganze unter Freudenschreien und Gelächter wieder von vorn los, so lange, bis jemand rausfliegt. Auf den schönen Gesichtern der Mädchen liegt pure Beseeltheit. Sie verlieren nicht die Lust am Spiel, sind ganz im Hier und Jetzt, schwelgend in jener unschuldigen Ausgelassenheit, wie nur Kinder sie besitzen.
Wie gebannt kann ich meine Augen kaum von dieser heiteren Szene nehmen. Für einen Moment versuche ich mir auszumalen, was für eine Zukunft diese Kinder hier in Balch erwarten mag. Vielleicht wird der kleine Junge in ein paar Jahren die patriarchalischen Sitten seines Umfelds übernehmen. Wo werden die Mädchen dann sein? Werden sie sich auch als junge Frauen ihre Lebensfreude bewahren können? Und wer bin ich überhaupt, diese Fragen zu beantworten?
Ich hole mich wieder in den Moment zurück und lasse mein Herz von der Energie der Kinder berühren. Wenn Rumi in Balch noch irgendwo zu finden ist, dann bei ihnen."
© Qantara.de 2023
Alle Zitate sind entnommen aus: Marian Brehmer, "Der Schatz unter den Ruinen: Meine Reisen mit Rumi zu den Quellen der Weisheit” (Herder, 2022), einem spirituellen Reisebericht, der von Begegnungen mit Sufis, Suchenden und Weisen in Afghanistan, Iran, Syrien und der Türkei erzählt.
Marian Brehmer hat Iranistik studiert und schreibt als freier Autor mit dem Schwerpunkt islamische Mystik.