Das Leben als Schachspiel

Montage of the Turkish author Kuzey Topuz and the cover of her debut novel, translated into German by Johannes Neuner and published by Dagyeli
Kuzey Topuz entwirft eine Welt voller beschädigter Existenzen, psychologischer Gewalt und toxischer Männlichkeit. (Quelle: Dagyeli Verlag)

In ihrem Debütroman "Der Freund" entwirft Autorin Kuzay Topuz ein komplexes Geflecht aus Fragmenten und Perspektiven. Es geht um Fragen von Macht und Einfluss im Zwischenmenschlichen wie auch auf gesellschaftlicher Ebene. Ein großer Wurf.

Von Gerrit Wustmann

"Dies ist eine Phantasietheorie. Dies ist eine Theorie über Phantasie." Mit diesen Sätzen beginnt "Der Freund", der Debütroman der Istanbuler Autorin Kuzey Topuz, ins Deutsche übertragen von Johannes Neuner, und gerade im Dagyeli Verlag erschienen.

Die erste Seite des Buches, direkt über diesen beiden Sätzen, ziert die mysteriöse Zeichnung eines Spielbretts. Als "Dialektik", "Gedankenverbrechen", "Glanzvolle Zeit" oder "Nostalgie" sind einige der Felder beschrieben. Was hat es damit auf sich? Das erfährt man im Laufe des Buches, in dem die Ich-Erzählerin und ihre ältere Adoptivschwester mit dem bezeichnenden Namen Sevgi (Liebe) ihre Figuren über das Brett wandern lassen, das die Erzählerin aus dem Staub ihrer Kindheit gekramt hat.

Und wie so viele Kindheitserinnerungen ist auch diese diffus: Sie mochte das Spiel, weiß aber nicht mehr, wie es gespielt wird. Also erfindet sie es neu, während sie im selben Atemzug Sevgi ihre ganz eigene Variante des Spiels beizubringen versucht. Sie heißt: Wer war und wo ist unser verschwundener Freund? Und war er überhaupt je ein Freund? Freund – was soll dieses Wort bedeuten?

Er, der Namenlose, war ein Geschichtenerzähler, an dessen Lippen die Schwestern hingen, ohne zu hören, was er sagte. Betört waren sie, ihm verfallen, von ihm abhängig, aber all das wird erst jetzt klar, wo er fort ist, ohne jede Erklärung. 

Nur den alles durchdringenden Acetongeruch seines Atems hat er zurückgelassen, der nun geisterhaft in der Luft hängt, ein Lösemittel des Lebens. Ging es ihm je um die Schwestern oder nur um sich selbst? War er für sie da oder hat er sie ausgenutzt? War seine Liebe eine Form von Gewalt?

Ein Roman in Fragmenten

Um diese Fragen zu ergründen, müssen sie zuerst ihn erfinden, ihn zusammensetzen aus echten und falschen Erinnerungen und Anekdoten, aus Träumen und Phantasien und aus der Wirklichkeit da draußen vor dem Fenster, hinter dem er sich versteckt.

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Assoziative Traumlogik

Kuzay Topuz' Roman ist fragmentarisch erzählt, rätselhaft, folgt bisweilen einer assoziativen Traumlogik, die an Kafkas "Prozess" erinnert. Dabei hat Topuz aber eine ganz eigene Stimme und Struktur und folgt einer Sprache voller Symbole und Metaphern, die man eher aus der Lyrik kennt. 

Ein Beispiel: Ist diese Sevgi, die Schwester der Erzählerin, wirklich ein Mensch, ist sie real vorhanden? Oder ist sie, ihrem Namen folgend, ein Symbol? Ist sie ein Sinnbild für das, was die Protagonistin sich selbst erklären möchte – oder für eine Flucht aus einem labyrinthischen Leben, das sich im labyrinthischen Aufbau der Erzählung spiegelt? Ähnlich kann man die "Baristas" betrachten, die in Sweatshops schlafen, damit der Tabakhändler ihre Träume verkaufen kann, gute wie schlechte, geträumte wie erfundene.

Die Atmosphäre, die sich daraus ergibt, ist eng und beklemmend. Vielleicht liegt das auch daran, dass immer wieder andeutungsweise ganz reale politisch-gesellschaftliche Verhältnisse der Türkei von heute ins Romangeschehen einbrechen. 

Politische Gewalt drängt sich ins Private und färbt auf den Umgang der Menschen untereinander ab, was implizit die Frage stellt: Wie harmonisch kann es zwischen Mann und Frau in solch einem gesellschaftlichen Klima schon zugehen?

Kuzey Topuz wurde 1995 in Istanbul geboren und hat dort bereits zahlreiche kürzere Texte in Zeitschriften und Magazinen veröffentlicht, während sie neben dem Studium Kurzfilme drehte. 2020 kam sie als Stipendiatin des Schloss Solitude nach Stuttgart und schrieb "Der Freund", der ursprünglich 2022 in der Türkei erschien. Inzwischen studiert sie in Leipzig Linguistik. 

Auf die Frage ihres Verlegers Mario Pschera während einer Lesung auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse, ob es auch die politische Lage ist, die sie bewogen hat, das Land zu verlassen, antwortete sie: "Es war zu ermüdend, sich jeden Tag fürchten zu müssen." 

Pschera verweist auf die noch immer großen Demonstrationen von Frauen an jedem 8. Mai in Istanbul. Topuz nickt, sagt aber: "Es reicht halt nicht, wenn nur wir etwas tun." Wir, die Frauen, meint sie.

Und so sehr sich all das in ihrem Roman niederschlägt, beeindruckt er doch vor allem mit seiner sprachlichen und strukturellen Brillanz. "Der Freund" ist hochkomplexe Literatur, die das Publikum fordert. Es ist kein Text, den man nebenbei lesen kann, sondern ein Buch, das man mehrmals lesen muss, um es ganz zu erfassen. Nur so lässt sich ein eigener Weg durch das Geflecht seiner Geschichten und Stimmen zu finden.

Viele Leser schreckt so etwas ab. Dabei hat uns diese Art von Literatur wirklich etwas zu sagen. Sie wird bleiben, weil sie zeitlos ist, und das nicht nur aufgrund ihrer Themen.

Gerrit Wustmann

© Qantara.de 2024

Kuzey Topuz "Der Freund", Dagyeli Verlag 2024