Erdogan zwischen allen Stühlen

A man waves a Palestinian flag and others clash with anti riot policemen outside the Israeli consulate during a protest to show solidarity with Palestinians, Istanbul, Turkey, 18 October 2023
"Viele Türken kritisieren, dass die Regierung ihre Sympathie für die Palästinenser bekundet, aber gleichzeitig ihre Handelsbeziehungen zu Israel aufrechterhält“, schreibt Ayşe Karabat. Im Bild: Eine pro-palästinensische Demonstration vor dem israelischen Konsulat in Istanbul im Oktober (Foto: Emrah Gurel/AP Photo/picture alliance)

Die Türkei ringt um ihre Israel-Politik zwischen innenpolitischen Sympathien für die Palästinenser und westlichem Druck, härter gegen die Hamas vorzugehen.

Von Ayşe Karabat

"Sie sind ein Komplize Israels, an Ihren Händen klebt palästinensisches Blut. Sie sind mitschuldig an den vielen Bomben, die Israel auf den Gazastreifen abgeworfen hat", lautete der letzte Satz der Rede, die der Abgeordnete Hasan Bitmez hielt, bevor er am 12. Dezember nach einem Herzinfarkt vor dem Parlament zusammenbrach. Zwei Tage später starb er im Krankenhaus. 

Bitmez, Mitglied der konservativen Oppositionspartei Saadet Partisi ("Partei der Glückseligkeit"), hatte in seiner Rede die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) von Präsident Erdoğan für ihre seiner Meinung nach heuchlerische Haltung gegenüber Israel kritisiert.

Bitmez artikulierte damit den wachsenden Druck der Konservativen auf Erdoğan, der Israel zwar wegen der Bombardierung des Gazastreifens scharf verurteilt, die wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen zu Israel aber bislang nicht abgebrochen hat. 

"Gebete für Palästina, Schiffe für Israel"

Ahmet Davutoğlu, ehemaliger Ministerpräsident unter Erdoğan und heute Vorsitzender der konservativen oppositionellen Gelecek Partisi ("Zukunftspartei"), erklärte am 6. Dezember, nach den Angriffen der Hamas am 7. Oktober seien mehr als 350 Frachtschiffe von der Türkei aus in Richtung Israel gefahren, einige davon hatten Güter für die israelische Armee geladen. 

Davutoğlu zeigte ein Video mit den Schiffen und behauptete, dass viele von ihnen Geschäftsleuten gehörten, die direkt mit der AKP verbunden seien. Das Präsidialamt dementierte die Behauptungen mit der Begründung, das Video sei alt. 

Das Dementi änderte jedoch nichts an der Unzufriedenheit in der türkischen Bevölkerung über die Gazapolitik der Regierung Erdoğan. Viele Türken kritisieren, dass die Regierung zwar ihre Sympathie für die Palästinenser bekundet, gleichzeitig aber die Handelsbeziehungen zu Israel aufrechterhält. Manche bringen diese Politik auf die Formel: "Gebete für Palästina, Schiffe für Israel". 

Turkish President Recep Tayyip Erdogan (right) speaks while Israeli Prime Minister Benjamin Netanyahu (left) smiles at him, both men are sitting in leather armchairs, the New York skyline can be seen through the window behind them, Turkish House, New York, USA, 19 September 2023
Nach einer langen Phase der Spannungen hatten sich die türkisch-israelischen Beziehungen in jüngster Zeit verbessert. Im Bild: Der türkische Präsident Erdoğan (rechts) trifft den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu in New York. (Foto: AK Party/Zuma/picture alliance)

Der Westen macht Druck

Die türkische Regierung steht nicht nur innenpolitisch unter dem Druck des konservativen Lagers, eine härtere Gangart gegenüber Israel einzuschlagen. Der Westen will, dass die türkische Regierung ihre Beziehungen zur Hamas überdenkt, die Erdoğan als eine "Gruppe von Freiheitskämpfern“ bezeichnet hat. 

Die Türkei will außerdem ihre Beziehungen zum Westen nicht weiter belasten, zumal sie sich im Gegenzug für die Zustimmung zum NATO-Beitritt Schwedens den Kauf von US-Kampfflugzeugen des Typs F-16 erhofft

Inmitten dieses ganzen Gezerres hat Israel angekündigt, es plane Hamas-Führer überall auf der Welt zu töten, auch in der Türkei. Erdoğan warnte, Israel werde einen "hohen Preis" zahlen, wenn es Hamas-Mitglieder auf türkischem Boden ins Visier nehme. 

Für prominente Hamas-Mitglieder, die in Istanbul leben, ist das Leben jedoch nicht mehr so wie vor den Hamas-Anschlägen vom 7. Oktober. Unbestätigten Berichten zufolge hat die türkische Regierung den Chef des Politbüros der Hamas, Ismail Haniyeh, der für seine häufigen Besuche in Istanbul bekannt ist, aufgefordert, das Land zu verlassen. 

Diese Berichte sorgten für weiteren Unmut unter den islamistischen Anhängern der AKP. Gleichwohl berichteten israelische Medien, dass führende Vertreter der Hamas am 17. Dezember ein Geheimtreffen in der Türkei abgehalten hätten. 

 

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Langjährige Präsenz der Hamas in der Türkei

Die Hamas ist seit 2011 in der Türkei präsent, das ist einem von Ägypten vermittelten Abkommen zu verdanken. Es enthielt die Abmachung, dass Israel im Austausch für den israelischen Soldaten Gilad Shalit mehr als 1.000 palästinensische Gefangene, darunter hochrangige Hamas-Mitglieder, freiließ. Nach dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs gingen weitere Hamas-Mitglieder von Damaskus in die Türkei. 

Nicht nur die Präsenz der Hamas in der Türkei hat die türkisch-israelischen Beziehungen belastet, sondern auch die Tatsache, dass Hamas ihre Präsenz in der Türkei zur Beschaffung von Geldern nutzt. Die Beziehungen zwischen Israel und der Türkei hatten sich nach einer langen Phase der Spannungen erst in jüngster Zeit verbessert. Das Fundraising der Hamas in der Türkei führte auch zu Spannungen zwischen den USA und Erdogan. 

Der Unterstaatssekretär für Terrorismus und Finanzkriminalität im US-Finanzministerium, Brian Nelson, der Anfang Dezember die Türkei besuchte, sagte, dass seit dem 7. Oktober keine zusätzlichen Geldströme für die Hamas aus der Türkei beobachtet worden seien, fügte aber hinzu, dass das Land "eine herausragende Rolle bei [früheren] Aktionen zur Geldbeschaffung gespielt hat und ... dass die Hamas versuchen wird, diese Tatsache auszunutzen, um weitere Gelder zu beschaffen". 

Die türkische Politikwissenschaftlerin und Nahost-Expertin Nuray Mert erklärte gegenüber Qantara.de, dass die Türkei im Gegensatz zu dem Bild, das einige westliche Medien zeichneten, im jüngsten Konflikt nicht als Hamas-freundlich angesehen werden könne. 

"Erdoğan hat viel aus dem Arabischen Frühling gelernt. Diesmal agiert [die Türkei] vorsichtig. Stünde die Türkei wirklich auf der Seite der Hamas, dann gäbe es mehr große Demonstrationen, die die Entsendung türkischer Truppen nach Gaza fordern, und die Beziehungen zu Israel wären gekappt worden", sagte sie. 

"Erdoğan ist ein Pragmatiker. Er versucht, die Islamisten in der Türkei zu besänftigen und gleichzeitig die Beziehungen zum Westen auszubalancieren, vor allem angesichts der Wirtschaftskrise in der Türkei", fügte sie hinzu.  

Erdoğan beschuldigt Israel der Kriegsverbrechen

Erdoğan hat Israel wiederholt Kriegsverbrechen vorgeworfen. So sagte er bei einem Treffen des Golf-Kooperationsrates in Doha am 4. und 5. Dezember: "Israel darf nicht mit den Verbrechen davonkommen, die es begangen hat."

Eine Gruppe türkischer Rechtsexperten hat beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) eine Klage gegen Israel eingereicht. Dieser Schritt wurde von Erdoğan unterstützt und stößt regierungsnahen Medienberichten zufolge auch in der Bevölkerung auf überwältigende Zustimmung. 

Auch der Türkei-Experte Galip Dalay von der Universität Oxford ist der Meinung, dass Erdoğans Anti-Netanjahu-Rhetorik innenpolitisch motiviert sei und Ankara einen anderen Ansatz verfolge. 

Turkish President Recep Tayyip Erdogan (centre) holds the arms of Palestinian President Mahmoud Abbas (left) and head of the Hamas Political Bureau Ismail Haniyeh (right) at the Presidential Complex in Ankara, Turkey, 26 July 2023
Unbestätigten Berichten zufolge hat die türkische Regierung den Chef des Politbüros der Hamas, Ismail Haniyeh, der für seine häufigen Besuche in Istanbul bekannt ist, aufgefordert, das Land zu verlassen. (Hier rechts im Bild mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan und dem palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas) (Foto: Mustafa Kamaci/Anadolu Agency via REUTERS)

Diplomatische Offensive

Ankara, so Dalay, sei besorgt über die uneingeschränkte Unterstützung des Westens für Israel und hoffe auf mehr Unterstützung von nicht-westlichen Mächten wie China und Russland. Dalay betont auch, dass Ankara nicht mit der Rolle führender arabischer Staaten wie Katar, Ägypten und Saudi-Arabien konkurriere, sondern diese unterstütze und ergänze

Dalay weist darauf hin, dass der türkische Außenminister Hakan Fidan Hauptstädte in der Region und weltweit besucht habe, um für ein multilaterales Garantiesystem als Ausweg aus dem Konflikt zu werben. 

Dahinter stehe die Idee, dass eine Gruppe von Staaten, die Türkei, einige arabische Staaten und relevante internationale Akteure, als Garanten für die palästinensische Seite auftreten könnten. Allerdings sei dieser Vorschlag bisher nicht aufgegriffen worden. 

"Da der Krieg in Gaza derzeit im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, scheint sich die Türkei auf die Hamas zu konzentrieren. Aber gleichzeitig arbeitet sie daran, einen breiteren palästinensischen Schirm zu spannen, der die Hamas einschließt", sagte er gegenüber Qantara.de. 

"Trotz der ablehnenden Haltung Israels könnte es früher oder später zur Einberufung einer internationalen Friedenskonferenz kommen, wie es sie in der Vergangenheit schon einmal gegeben hat. Ankara setzt auf eine breit angelegte Konferenz auf der Grundlage einer Zweistaatenlösung und möchte ein entscheidender Teil davon sein", sagte er. 

Erdoğan übte scharfe Kritik an Israel, drängt aber gleichzeitig auf eine Friedenslösung in der Region. Mit Blick auf die Rolle der Türkei in dem Konflikt sagte er, dass die Türkei ihre Bemühungen verstärken werde, die Länder zu überzeugen, die sich bei der Abstimmung der UN-Generalversammlung am 13. Dezember enthalten haben, in der eine Resolution für einen sofortigen humanitären Waffenstillstand im Gazastreifen gefordert wurde. Resolutionen der UN-Generalversammlung sind rechtlich nicht bindend. 

Nach seiner Rückkehr von der UN-Klimakonferenz in Dubai 2023 sagte Erdoğan vor Journalisten, sein Handeln sei von der Frage geleitet: "Wie können wir die Aussicht auf einen dauerhaften Frieden wiedergewinnen?"

Ayşe Karabat

© Qantara.de 2023