Geschäftssinn macht noch keine gute Politik 

Aziz Akhennouch ist in Marokko seit etwa einem Jahr als Regierungschef im Amt. Was hat das erste Jahr seiner Regierung den Marokkanern gebracht? Von Mohamed Taifouri   

Essay von Mohamed Taifouri

Ein Jahr reicht nicht aus, um die Leistungen einer Regierung abschließend zu beurteilen. Nach 100 Tagen gibt es eine erste Bilanz, eine Tradition, die auf US-Präsident Roosevelt zurückgeht. Er hatte 1933 zu Beginn seiner Amtszeit ein "100-Tage-Programm“ verabschiedet und auch erfolgreich durchgesetzt.   

In Marokko war von einer Bilanz auch nach einem Jahr nichts zu spüren. Abgesehen von einigen beiläufigen Bemerkungen des Regierungschefs bei einer internen Veranstaltung im September für die Jugendorganisation der Partei RNI (Rassemblement National des Indépendants / Nationale Sammlung der Unabhängigen) – also der Partei, deren Vorsitzender Akhennouch ist. Bei diesem Anlass lobte Akhennouch den Erfolg seiner Regierung, in Marokko ein gewisses Maß an Normalität inmitten einer außergewöhnlichen internationalen Lage bewahrt zu haben.

Das marokkanische Volk solle sich darüber im Klaren sein, dass das allein schon ein Erfolg sei, so der Premierminister. Im Anschluss daran sprach er über das Paket von Sofortmaßnahmen, das seine Regierung aufgrund der regionalen und internationalen Umwälzungen verabschiedet hat, um die Stabilität im Königreich zu wahren. 

Wahlversprechen nicht eingelöst 

Diese Einlassungen von Premierminister Aziz Akhennouch stehen im Widerspruch zur Wahlkampfrhetorik seiner Partei, war sie doch mit dem Slogan angetreten: "Ihr habt etwas Besseres verdient“. Tatsächlich aber löst die wirtschaftsliberale Partei bis heute ihre Wahlversprechen nicht ein.

 Wütende Demonstranten protestieren gegen Inflation und steigende Lebensmittelpreise in Rabat, Marokko; Foto: picture-alliance/dpa/AP
"Akhennouch raus“ skandieren wütende Demonstranten im Juli in Rabat. Steigende Preise hatten in Marokko drei Wochen lang zornige Reaktionen  ausgelöst. Vor allem die Benzinpreise stiegen auf Rekordniveau und blieben hoch, obwohl sie international gesunken sind. Das ist besonders brisant, weil Akhennouch nicht nur das für den Energiesektor zuständige Ministerium leitet. Er profitiert als Eigentümer von Afriquia – dem größten marokkanischen Unternehmen für Kraftstoffhandel und -vertrieb – von den hohen Preisen. Diese moralisch fragwürdige Doppelrolle brachte in der Boulevardpresse selbst die Anhänger des Milliardärs Akhennouch in Verlegenheit.

Zwar sind die Forderungen der Partei in die offizielle politische Agenda der Regierung eingeflossen. Aber die RNI hatte den Marokkanern ein neues, demokratisches Marokko versprochen – anders als noch während ihrer Koalition mit den Islamisten von der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD). Angekündigt wurden der Aufbau eines Staates für alle Bürger, der wirtschaftliche und soziale Aufschwung, eine kohärente Politik und nicht zuletzt eine effiziente Regierung. 

Ein Blick auf das von der gesetzgebenden Versammlung am 13. Oktober 2021 gebilligte Regierungsprogramm zeigt, dass die Regierung bei der Umsetzung nicht einmal über den ersten Punkt hinausgekommen ist.



Auch eher kleinere soziale Leistungen bleiben bislang nicht mehr als ein Versprechen, etwa das vorgesehene "Einkommen in Würde“ von 400 marokkanischen Dirham (36 Euro) monatlich für ältere Menschen, 300 Dirham (27 Euro) für jedes von bis zu drei Kindern einer bedürftigen Familie zur Unterstützung der Schulbildung sowie eine lebenslange Unterstützung von behinderten Menschen. Und das, obwohl die Regierung zugesagt hatte, diese neuen Leistungen bereits im ersten Jahr ihrer Amtszeit einzuführen. Dabei hatte sie selbst angekündigt, das Programm sei einfach und leicht umsetzbar. 

Unrealistische Ziele 

Die übrigen große verkündeten Ziele der Regierung Akhennouch erscheinen im Nachhinein eher als PR in eigener Sache. Die Regierung setzt sich offenbar wider besseren Wissens unrealistische Ziele, wie ein Blick auf die Statistiken zeigt. Verdeutlichen doch die nackten Zahlen, wie schwierig, wenn nicht gar unmöglich es ist, derartige Zusagen für Sozialleistungen einzuhalten.

In ihrem Regierungsprogramm versprach die Regierung beispielsweise, eine Million Familien aus Armut und Unsicherheit zu befreien, ohne zu erläutern, wie sie dies erreichen will. Auch schrieb sie sich die Schaffung von einer Million Arbeitsplätzen und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auf die Fahnen.

Der Milliardär und erfahrene Wirtschaftsexperte Akhennouch wird sich darüber im Klaren sein, dass seine Regierung dieses Ziel mit den derzeitigen Wachstumsraten nicht erreichen kann. Die von der Regierung angekündigte Revolution im Bildungssektor dürfte vorerst ebenfalls ausfallen, womit das erklärte Ziel in weite Ferne rückt, Marokko zu einem der 60 Länder mit dem weltweit besten Bildungssystem zu machen. 

Über ihren Sprecher verwies die Regierung auf zwei Zwänge, die es ihr erschweren würden, bestimmte Zusagen einzuhalten: Zum einen sei der Haushalt des ersten Regierungsjahres nicht von der aktuellen Regierung erstellt worden und enthalte daher Elemente und Altlasten der Vorgängerregierung. Außerdem habe der unvorhersehbare Überfall Russlands auf die Ukraine weltweit die Haushalte durcheinander gewirbelt und die Wirtschaftsplanung umgeworfen. 

 

Abdelilah #Benkirane has once again lashed out at the head of Moroccan #government Aziz #Akhannouch, overtly criticizing him over the planned increase in #Morocco's working-class #wages. pic.twitter.com/oib5VQBvG0

— Morocco World News (@MoroccoWNews) May 13, 2022

 

Der zweite Grund für das Scheitern mag stichhaltig sein, der erste ist es definitiv nicht. Denn die RNI war bereits in der Vorgängerregierung ein wichtiger Koalitionspartner. Es war RNI, die eine Kampagne gegen den Generalsekretär der islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD), Abdelilah Benkirane, führte, um seine zweite Amtszeit als Premierminister zu verhindern. 

Inflation und hohe Preise führen zu wachsendem Unmut

Ganz abgesehen davon, wie viele Punkte des Regierungsprogramms bislang umgesetzt worden sind, gilt es festzuhalten, dass für die Umsetzung der Zusagen ein Zeitrahmen von fünf Jahren (von 2021 bis 2026) angeführt wurde. Die Regierung hat also durchaus noch Zeit, ihren zögerlichen Start wettzumachen und ihre Wahlkampfversprechen einzulösen. Gemessen an den beispiellosen Qualifikationen und Fähigkeiten, die Akhennouchs Untertstützer ihm zuschreiben und gemessen an dem großen Konsens innerhalb seiner Partei sollte das doch kein Problem darstellen. 

Zurück zur Frage der Stabilität: Der Regierungssprecher behauptet, die Regierung Akhennouch sorge für Stabilität. Die Frage ist allerdings, was man unter Stabilität versteht. Die marokkanische Zentralbank prognostiziert in ihrem jüngst veröffentlichten Bericht eine Abschwächung des Wirtschaftswachstums. Aktuell geht die Zentralbank von weniger als 0,8 Prozent Wachstum in diesem Jahr aus. Die Prognosen der Regierung lagen bei 3,2 Prozent.



Der wirtschaftliche Einbruch geht mit einem Anstieg der Inflationsrate in der ersten Hälfte dieses Jahres auf 7,7 Prozent einher. Selbst die Preise der Waren, die seit jeher über die Preisstabilität in Marokko entscheiden, erfahren einen Rekordanstieg. Unter dem Strich sind alle Güter des täglichen Bedarfs betroffen. Der Preis für Benzin ist mit 18 Dirham pro Liter (1,6 Euro) sogar auf einen neuen Rekordwert geklettert. 

Im Juli lösten diese Teuerungen in den sozialen Medien unter dem Hashtag "Akhennouch raus“ drei Wochen lang zornige Reaktionen aus. Obwohl die Kraftstoffpreise mittlerweile international gesunken sind, bleiben sie in Marokko weiterhin auf Rekordniveau. Akhennouch wird in zweierlei Hinsicht dafür verantwortlich gemacht: Erstens untersteht ihm als Premierminister das für den Energiesektor zuständige Ministerium.



Zweitens profitiert er selbst als Eigentümer von Afriquia – dem größten marokkanischen Unternehmen für Kraftstoffhandel und -vertrieb – von den hohen Preisen. Diese moralisch fragwürdige Doppelrolle brachte in der Boulevardpresse selbst die Anhänger des Milliardärs Akhennouch in Verlegenheit. Sie können sich kaum mehr auf steigende Preise auf den internationalen Märkten berufen, wenn andererseits genau diese Märkte bei wieder fallenden Preisen ignoriert werden. 

Der Volkszorn hat inzwischen ein solches Ausmaß erreicht, dass die Marokkaner untereinander nur noch sarkastisch über den Wahlslogan der RNI sprechen. Anstatt auf das Versprechen "Du verdienst etwas Besseres“ zu hoffen, wären sie heute bereits zufrieden, wenn alles so geblieben wäre, wie es war. 



"Besser“ dürfte es nur für einige Unternehmer aus den Reihen der RNI geworden sein. Die zuvor schon in der Corona-Pandemie unter der Regierung von Saad Eddine El Othmani schlechten Lebensbedingungen der meisten Marokkaner haben sich mit dem  Krieg in der Ukraine unter der jetzigen Regierung von Akhennouch weiter verschlechtert. 

Mohamed Taifouri 

© Qantara.de 2022 

Übersetzt aus dem Arabischen ins Englische von Chris Somes-Charlton / Deutsche Übersetzung Peter Lammers